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Tod in Imst Am Samstag, 2. September 1995, um neun Uhr wurde Magnus Henning in Imst beerdigt. Cirka 20 Personen waren gekommen, und der evangelische Pastor hielt eine kleine Predigt über den verstorbenen Sohn, der während des Krieges nach Amerika gegangen sei: So als hätte er dort Urlaub gemacht! Die Obrigkeit der Stadt Imst nahm keine Notiz von ihm. Es ist ja nicht verwunderlich, da Frau Gamper, die ehemalige BDMFührerin, nun Kultursekretärin ist. (Diese wurde von der Landesregierung sehr ins Herz geschlossen). Da ist für aktive NaziGegner der Tod ein Akt der Einsamkeit. Magnus, 1904 in Riga geboren, er konnte während des Ersten Weltkrieges nach Berlin flüchten. Dort brachte er sich als Stummfilmbegleiter in Soldatenkinos durch. Seine Eltern verlor er aus den Augen, sie wurden nach Rußland deportiert. Er hat nie wieder von ihnen gehört. Er kam 1926 zum ersten Mal zum Schilauf nach Ehrwald (in Tirol). Bei einer Bäuerin mietete er sich ein. Sie war auch beim Begräbnis und meinte: Magnus wurde nicht verfolgt, sie wisse das. Man müsse verstehen, Arbeitslosigkeit; man sah Arbeit und Brot im Nachbarland. Viele seien dann doch wieder nach Ehrwald zurück und hätten sich versteckt. Magnus mußte, so gab sie nach meinem Nachfragen zu, jeden Kontakt mit seinen Freunden meiden, durfte die Familie Mann nicht mehr treffen und so weiter. Das ist keine Verfolgung, sondern Vorsicht, meinte die Frau! Da fiel mir Kramers Gedicht ‚‚Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan“ ein. Die Hartherzigkeit des katholischen Leidengenusses! Magnus war ein rücksichtsvoller Mensch. 14 Am besten ist ihr das Schreiben während der Schwangerschaft von der Hand gegangen. Erlebnisse hat sie gespeichert und erst im nachhinein zu Papier gebracht. In der Firma Meier hatte sie neben der Preßmaschine einen Zettel liegen. Da konnte sie sich schnell was notieren. Oft nennt sie die Umstände ihrer Einfälle, und manchmal ist die Nennung aufschlußreicher als das Gedicht. “Erdacht, als ich beim Vortrag die jungen hübschen Mädchen betrachtete.” “ Ausgesteuert! Geschrieben in der Zeit der Arbeitslosigkeit 1937.” “ Arbeitssuche! Erdacht in der Firma Meier 1937.” “Geschrieben nach einem Gespräch mit einem seligen Heimkehrer, einem jungen, einfältigen Knecht, welcher mit Tränen in den Augen, die Stiefel in der Hand mit ausgebreiteten Armen seine Heimat begrüßte, auf der Straße nach Eidenberg 1946.” “Geschrieben 1947, als uns von Linz aus in Urfahr und Mühlviertel alles schwer gemacht wurde.” “Leid in der Stadt. Samstag den 8. September 1962 erdacht im Menschengewühl.” Jettel, die Tagträumerin. “Mir sind immer die Gedanken davongerennt.” Auf dem Schulweg zum Beispiel hat sie den Schwalben nachgeschaut. Dann hat sie den Parkwächter vor der Römerbergschule gesehen, wie er den Kies gerecht hat. Auf das Geräusch des Rechens hat sie geachtet. Den Ast vor dem Fenster hat sie schwingen gesehen. Gerade da hat die Lehrerin ihren Namen gerufen. “ Olzinger!” Oder später, wie sie in der Fabrik gearbeitet hat: Ihr ist keine Arbeit schwergefallen. Sie ist immer voller Gedanken gewesen. So ist ihr die Arbeit leicht von der Hand gegangen. Diese Geistesabwesenheit, das Vertieftsein in handwerkliche Arbeit bei gleichzeitiger Freiheit der Gedanken - das ist der Boden, in dem ihre Literatur wurzelt. Der herbe Überschwang ihrer frühen Gedichte! “Die Jugend war damals wirklich schwärmerisch veranlagt. Wir haben uns ja selbst gegeißelt. Wir haben uns der Gefühlsduselei bezichtigt.” Abzuwarten, wann eine neue Generation überschwenglicher Schwärmer heranwächst. Die Helden ihrer Gedichte sind Vagabunden und Vaganten, Stromer und Tippelschicksen, Lumpen und Wegelagerer. Ein Vagabund über Bürger und Büttel: “Sie haben einem lieben Gott/Thr Seelenheil verschrieben/Und fühlen sich von mir bedroht/Barmherzigkeit zu üben.” Die Tippelschickse: “Daß ich verkomm’ in Not und Leid/Das ist euch ganz egal./Drum spuck ich auf eure Sittlichkeit,/Auf eure verlog’ne Moral.” Lump an Lump: “Ich bin wie damals noch das arme Luder/Und du ein feiner, ein gemachter Mann.” Der junge Vagant: “ Vielleicht wird mich versengen/Des Daseins heißer Schmerz.” Die eindringlichsten Verse stehen im ‘Stromerlied’: Den Weg entlang setzt sich der Staub, Bedeckt mir Haß und Zorn, Und Liebe, für mich ist ich glaub’ Hopfen und Malz verlorn. Walz In den zwanziger Jahren, vor und nach der Geburt ihrer Tochter Vera, ist Henriette Haill zu langen Wanderungen aufgebrochen. Donauaufwärts, über die Grenze nach Passau. In Coburg hatte sie Bekannte. Oder sie wanderte ins Mühlviertel. Allein, mit ihrem ersten Mann, zusammen mit anderen Jungen. Bei Nachtwanderungen wurde am Lagerfeuer vorgelesen: Gorki, Turgenew, Petzold. “Die Walz hat mich angezogen, das Erlebnis der Landstraße, die Bitterkeit der Landstraße. Es ist eine Bitterkeit. Ein Ausflug ist fröhlich. Auf der Walz weiß ich nie, wo lege ich am Abend mein Haupt hin.” Während der Wanderungen hat sie nichts aufgeschrieben. Sie hat ihre Eindrücke aufgehoben, erst zu Hause zu Papier gebracht. “Es war alles so nah.” Peter Kammer