Ich möchte, wenn ich es kann, ein Helfer der Dichter und ein Förderer der Menschengestalter
alias Schauspieler sein. Konstruktiv begabte Zeitstückeschreiber, Vereinsbarden, Hetzprediger,
Aktualitätenjäger setzen sich leicht durch. Dichter, die von dem aussagen, was ewig aktuell, was
allen gemeinsam ist, was alle Theaterbesucher von der Galerie bis zur ersten Parkettreihe zu einer
Menschengemeinde zusammenschließt, haben es schwer. (...) Ich möchte den Leisen, den
Selbstverständlichen, den Sinnfälligen, die vom Menschen aussagen, wie er ist und wie er immer
sein wird, zur Aufführung verhelfen. Mit Menschen! Denn Schauspieler, die Dichter spielen
sollen, müssen in erster Linie Menschen sein. Rundum richtig. So reich wie möglich, kindhaft
sinnfällig, ganz nahe den vielfältigen Eindrücken des vielfältigen Lebens, wahrhaftig in sich und
in liebendem Zusammenhang mit allem, was Menschen verdirbt und beglückt. (...) Diesen
Schauspielern möchte ich ein Förderer sein. Ein Löser der Fesseln, einer der sie zurückführt zu
ihrem eigensten Ich. Und sie an die Naturgebundenheit dieses Ichs glauben macht. (...) Einer,
der sie überzeugt, daß sie Deuter in Kinder- und Himmelsfernen sind, (...) nicht wegdenkbar aus
der unbunten Ödnis der Zivilisationswelt, ganz bunte Überbleibsel eines paradiesischen Urzu¬
standes sind.”
Ich denke, daß es mit der Theaterführung und -formung so ist wie mit jeder Kunst oder jedem
beispielhaftem Leben. Alle großen oder besser wesentlichen Dinge sind nie dadurch entstanden,
daß einer die Realität erkannt, beherrscht und geleitet hat, sondern indem er einen Traum ins
Leben gehoben und verwirklicht hat. Nicht aus der Realität, sondern aus der Umformungskraft
eines schöpferischen Traumes, der aus einem liebevollem Herzen ins Leben steigen will, entsteht
alles Wesentliche: das Leben des Heilands wie die Kantsche Philosophie — nicht ausgenommen
auch die schönste, die religiöse Form des Theaters. (...) In dieser erbarmungslosen Zeit, die von
den Geburtswehen einer Welt, die sich gebären muß, zerrissen ist, hat das Theater wohl einen
besonderen Sinn und eine besondere Bedeutung. Vielleicht ist es möglich, etwas mitzuhelfen,
unseren im heißesten Kampf stehenden Brüdern wieder das totale Bild des Menschen zu geben.
Ihre Sehnsucht nach diesem Bild zu wecken oder zu erfüllen. Ihnen in ihrer grenzenlosen
Tapferkeit zu zeigen, daß im tiefsten Leid und in der schwersten Verwirrung immer noch der
Anfang zu einem Neuwerden und immer noch etwas vom Abglanz Gottes ist. Das ist der höchste
Sinn des Theaters in unserer Zeit.”
Hilpert 1945, ,,um einen Neubeginn von innen her bittend“:
Was uns not tut, ist einzig und allein die Besinnung des Menschen auf seine ewigen Gesetze, die
Harmonisierung seines innersten Wesens mit dem göttlich Gebotenen, die Übereinstimmung mit
den ewigen Rhythmen von Sonne und Mond, Tag und Nacht, den Jahreszeiten und ihren
Gesetzen mit Saat und Ernte! Wir müssen stimmen, dann werden auch die äußeren Verhältnisse
um uns sich wieder harmonisieren. (...) Dies ist die Aufgabe von nun an jeder Seelsorge, jeder
Kunst. Sie ist die künftige und zunächst ausschließliche Aufgabe des Theaters. (...) Theater muß
von jetzt an Bekennertum sein. Dies Bekennertum muß vom Charakterlichen wie vom Künstle¬
rischen ausstrahlen. (...) Wir haben jetzt kaum Zeit für bloße Unterhaltung. Wir müssen die
Menschen anpacken und umformen. Aber bei allem Ernst die niederziehende Schwere alles
dessen, was knapp hinter uns liegt und zum Teil noch in uns liegt, wieder in Grazie, Anmut,
Zärtlichkeit und Zauber verwandeln. (...) Und allein der gestaltende, und auf sein Bekenntnis
gestellte Schauspieler und das gestaltete und bis zur letzten Tiefe erlebte Werk des Dichters wird
die Herzen der Zuschauer gewinnen.
Genau diese Worte wollten die Menschen nach dem Krieg hören und genau dieses
„Vokabular, das stumm machte“ provozierte rückkehrende Emigranten, wie Bertolt
Brecht. Im August 1948 betrat Bertolt Brecht zum ersten Male wieder deutschen Boden.
Zusammen mit Max Frisch ging er zu Fuß über die Schweizer Grenze, um in Konstanz
eine Inszenierung von Heinz Hilpert zu sehen, der zu dieser Zeit Direktor des Theaters
von Konstanz war. Max Frisch hat in seinem Tagebuch diesen Besuch der Theatervor¬
stellung und die „überschwengliche Begrüßung“ durch Hilpert beschrieben: „Nach
der Aufführung verbreitete sich Brecht über das deutsche Bier, das nach wie vor das
beste Bier sei; kurz darauf: ‚Gehen wir!‘ Er schwieg sich aus, bis man wieder in
Kreuzlingen war; eine Bemerkung Wilfried Seiferts, der uns begleitete, brachte ihn
plötzlich zum Bersten. Er begann mit einem kalten Kichern, dann schrie er, bleich vor
Wut; Seifert verstand nicht, was mit Brecht los war. Das Vokabular der Überlebenden,
wie unbelastet sie auch sein mochten, ihr Gehabe auf der Bühne, ihre wohlgemute
Ahnungslosigkeit, die Unverschämtheit, daß sie einfach weitermachten, als wären bloß
ihre Häuser zerstört, ihre Kunstseligkeit, ihr voreiliger Friede mit dem eigenen Land,
all dies war schlimmer als befürchtet; Brecht war konsterniert, seine Rede ein großer
Fluch. Ich hatte ihn noch nie so gehört, so unmittelbar wie bei dieser Kampfansage in
einer mitternächtlichen verschlafenen Wirtschaft nach seinem ersten Besuch auf deut¬
Koreferat zum Konzept
Hermeneutik und Poetik der
„Verdeckten Schreibweise“
Daes kein Verstehen subversiver literarischer
Botschaften ohne Annahmen über die Person
ihrer Autoren gibt, kommt der Aufarbeitung
der Biographien von Dichtern/Dichterinnen
der Inneren Emigration im Rahmen einer
Hermeneutik und Poetik der „Verdeckten
Schreibweise“ eine besondere Rolle zu. Die¬
se ist umso notwendiger, als viele einschlägi¬
ge Untersuchungen nur dürftige Auskünfte
über das oft zwiespältige Verhältnis der lite¬
rarischen oder publizistischen Dissidenten
zum nationalsozialistischen Regime geben
und deren Autobiographien vielfach umdeu¬
tend und selektiv (zumal im Blick auf das
Verhalten in den Anfangsjahren des ‚‚Dritten
Reichs‘) verfahren. - Zur Vertiefung der Dis¬
kussion dürfte auch eine einläßlichere Be¬
schäftigung mit der zumeist. widersprüchli¬
chen Rezeption von Werken Innerer Emi¬
granten, die sich aus der Ambivalenz des
politischen Verhaltens ebenso wie aus der
„, Verschiedenverstehbarkeit‘“ camouflierten
Sprechens ergeben hat, beitragen.
Heike Ehrke-Rotermund, geb. 1941, Stu¬
dium der Germanistik, Anglistik und Kunst¬
geschichte in Bonn. 1974-80 wissenschaft¬
liche Tätigkeit an der Universität Mainz,
Lehrtätigkeit an der Volkshochschule in
Mainz. Schrieb u.a. über ‚Innere Emigra¬
tion“, Adalbert Stifter, Goethe, Otto Dix
und über Kriegs- und Antikriegsromane der
20er und 30er Jahre.