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Berlin 1933
Aus einem Interview mit
Lisa Fittko

Lisa Fittko, geboren als Elisabeth Ekstein
1909 in Ungvar (heute Ushgorod, Ukrai¬
ne), wuchs in Budapest und Wien auf. Ihr
Vater war unter dem Homonym E.K. Stein
Herausgeber der linkspazifistischen Zeit¬
schrift ,,Die Waage“ (und 1934 Initiator
des Kabaretts ,, Literatur am Naschmarkt“
in Wien?). Lisa übersiedelte in den 20er
Jahren mit den Eltern nach Berlin und war
politisch sehr aktiv.

Zu der allgemeinen Atmosphäre in Berlin
kann ich nur sagen, daß das Reizvolle an der
ganzen Situation doch wohl die Gefahr war,
die wir gesehen haben im Nationalsozialis¬
mus, und die ab 1929 ganz konkret gewor¬
den ist. Es gab ja eine lange Zeit, wo der
Name Hitler überhaupt unbekannt war, die
rechte Gefahr waren damals die ultrarech¬
ten Kriegerverbände, nicht die NSDAP.
Aber dann hat sich das geändert mit den
Wahlresultaten, das war eine völlige Über¬
raschung, aber Hitler blieb in unseren Krei¬
sen doch mehr eine lächerliche Figur. Es hat
sehr lange gedauert, bis man ihn erst ge¬
nommen hat. Ich werde in den USA hier
jetzt manchmal gefragt, wieso ‚Ihr deut¬
schen Juden“ das nicht vorher gewußt habt,
er sagt das doch alles ganz klar in ,,Mein
Kampf“. Ich hab’ „Mein Kampf“ nie gele¬
sen, aber ich kenne auch keinen Menschen,
der es gelesen hat, das tat man einfach nicht.
[...] Aber gab es nicht verschiedene Roman¬
schriftsteller, die diese Rassentheorie auf¬
gebaut haben. Dinther, „Die Sünde wider
das Blut‘, ich weiß nicht, ob das derselbe

Fortsetzung auf Seite 9

Lisa Fittko

Brief aus Chicago, 22. Juli 1995

Manchmal frage ich mich: wenn man einmal ins Exil gegangen ist, bleibt man dann für
immer ein Exilant? Und ich, bin ich eine österreichische Exilantin? Ich habe ein ganz
altes Papier, auf dem steht, ich habe das österreichische Heimatrecht und sei zuständig
in Wien. Was das damals hieß und ob es heute noch gültig ist, weiß ich nicht. Aber
gerne möchte ich wissen, was es bedeutet, irgendwohin zuständig zu sein.

Mein Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime begann in Deutschland
und setzte sich fort in den Exilländern. Ich floh vor dem Nazi-Regime aus Berlin. Zuerst
war ich im Exil in Prag, dann in Basel; in Amsterdam und in Paris; im Lager Gurs; am
Mittelmeer und in den Pyrenäen. Danach kamen viele Jahre Exil auf Kuba. In den
Vereinigten Staaten lebe ich nun bald ein halbes Jahrhundert — länger als in allen
anderen Ländern zusammengenommen.

Bin ich trotzdem noch weiter im Exil? Man bleibt vielleicht ein Exilant, selbst wenn
man eine neue Heimat gefunden haben sollte. Die ursprüngliche Heimat — das ist in
meinem Fall wohl Europa.

Aber das Erinnern geht doch noch weiter zurück und es erlischt nicht. Es geht zum
Beispiel zurück bis 1919 in Wien — da war ich doch erst kaum zehn Jahre alt — diese
große antisemitische Demonstration vor dem Rathaus. Die sozialistischen Führer riefen
zu einer machtvollen Gegendemonstration auf. Dann aber iiberlegten sie sichs: ,, Keine
Beachtung schenken“ sei doch besser — einfach ignorieren.

In der Wiener Zeitschrift „Die Waage“ schrieb damals E.K. Stein (mein Vater)
gegen das „‚Ignorieren“. Das weiß ich noch, weil er mir genau erklärte: Ein Übel wie
der Antisemitismus wird durchs Ignorieren nicht bekämpft. Wenn man nichts dagegen
tut, läßt man es blühen und gedeihen. Aus dem Wegschauen kann Mithelfen werden.
Das und noch vieles andere gehört zu den Erinnerungen, die mich im Exil begleiteten
und die manchmal auch halfen, den Weg zu weisen.

Ich mag doch wohl in Wien zuständig sein.

Lisa Fittko

Lisa Fittko mußte eine Teilnahme am Wiener Symposium ‚Frauen im Exil“ aus
gesundheitlichen Gründen leider absagen. Sie schrieb aber an Renate Göllner und bat
sie, ihren Brief den TeilnehmerInnen des Symposiums bekannt zu machen. Lisa Fittko
ist durch ihre Erinnerungsbücher ‚Mein Weg über die Pyrenäen“ und ‚Solidarität
unerwünscht“ bekannt geworden. An einem dritten Buch (Erinnerungen ab 1940)
arbeitet sie.