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Und nun — mit einiger Verspätung — zu unserem eigentlichen Thema, zu den Autoren Bronnen und Brunngraber. Als 1954 ,,Bronnen gibt zu Protokoll“ erschien (bei Rowohlt, der auch die Erfolgsstiicke der zwanziger Jahre, ,, Vatermord“, ,,Ostpolzug“, „Katalaunische Schlacht“, seinerzeit herausgebracht hatte, Stücke, die von so bedeutenden Regisseuren wie Jessner und Viertel inszeniert worden waren und damals Theaterskandale hervorgerufen hatten), da wurde das Buch von der Kritik unisono verrissen. Damals galt noch die zeitgeschichtliche Version, eine kriminelle Minorität habe die Majorität des Volkes versklavt und zum Verstummen gebracht. Auch lag der Aufstand des 17. Juni nur ein Jahr zurück. Der breiteren Öffentlichkeit war es einfach unerträglich, daß da einer, der zuletzt kommunistischer Bürgermeister in einem Ort des Salzkammerguts gewesen war, nun an die alte Stätte seines Wirkens zurückkehrte und für die „Berliner Zeitung“ im Osten Theaterkritiken schrieb, und das sogar über Vorstellungen, die er im Westen hatte besuchen können. Das war einfach zuviel. Man befand sich auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Das Buch stellt den — nicht geglückten — Versuch dar, den Zickzack-Lebensweg seines Verfassers (von links nach rechts und nochmals nach links) in nicht beschönigender Weise vor einem fiktiven Gericht, das man sich wohl am besten als Parteiverfahren vorstellen wird, zu Protokoll zu geben. Die Instanz, die vom Verfasser ermächtigt wird, das letzte Urteil zu fällen, ist der Leser. Nach jedem Abschnitt des Berichts Bronnens weist ihn sein Richter, der von Anfang an weit mehr über Bronnen zu wissen scheint als dieser selbst, zurecht, hilft dem Gedächtnis des Angeklagten nach, ermahnt ihn, weniger zu beschönigen. Woraufhin der Angeklagte im nächsten Abschnitt eine relativ belanglose Einzelheit preisgibt, um damit ein weit größeres Vergehen zu verdecken. Das souveräne literarische Können des Autors, verbunden mit einer sonderbaren moralischen Zwielichtigkeit, macht das Buch zu einer ebenso faszinierenden wie irritierenden Lektüre. Das Schlußverdikt der richtenden Instanz lautet: „Mit diesen fünfzig Jahren, Arnolt Bronnen, erwarben Sie sich grad (sic!) eine Chance zum Weiterleben. Der Wert des Restes wird den Wert des Ganzen bestimmen.“ — Zu dieser Bewährungsmöglichkeit sollte es nicht mehr kommen. Bronnen starb 1959, ohne nach dem „Protokoll“ — abgesehen von dem Prosatext ‚‚Aisopos“ — noch weiteres geschrieben zu haben. Hans Mayer plädiert in seinem scharfsinnigen Nachwort zur Neuausgabe für eine „Wiederaufnahme des Verfahrens“ gegen Bronnen. Grund für diesen Antrag zur „Wiederaufnahmen“ sieht er darin, daß wir uns in den letzten fünfundzwanzig Jahren verändert hätten. Längst nicht mehr könne die Illusion aufrecht erhalten werden, eine kriminelle Minorität hätte verstanden, die Majorität des Volkes niederzuhalten. Alle seien — in verschiedenem Ausmaß — schuldig geworden. Mayer sieht den seinerzeit unverständlichen oder als freche Provokation empfundenen Untertitel, den Bronnen seinem Buch gab (,‚Beiträge zur Geschichte des modernen Schriftstellers“), in Zusammenhang mit Dürrenmatts berühmtgewordenem Essay über ,, Theaterprobleme“, der ein Jahr nach Bronnens ‚‚Protokoll“ veröffentlicht wurde. Da heißt es: „,... In der Wurstelei unseres Jahrhunderts gibt es keine Schuldigen und keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt.“ Im Lichte dieser Einsichten Dürrenmatts, so meint Mayer, werde auch aus dem Sonderfall Bronnen ein gesellschaftlich typischer Fall. Mayer erwartet in einer „Wiederaufnahme des Verfahrens“ gegen Bronnen keineswegs einen Freispruch für diesen, aber wir hätten heute weit weniger Anlaß zu moralischer Entrüstung, als wir seinerzeit — beim Erscheinen der Erstausgabe 1954 — zu haben geglaubt hatten. Statt der einmütigen Verwerfung durch die Kritik würde diesmal, so vermutet Mayer, eine differenziertere Stellungnahme erforderlich sein. Stammte Bronnen aus gehobenem Mittelstand — sein Vater (den er später aus „rassischen“ Gründen verleugnete) war Mittelschulprofessor mit einem leicht völkisch eingefärbten Freundeskreis —, so war Brunngraber ein Arbeiterkind aus dem Wiener Gemeindebezirk Favoriten, sein Vater war Maurer. Die Chancen für den 1902 Geborenen erschienen gering. Immerhin konnte er die Lehrerbildungsanstalt besuchen, aus der er bald herausflog; auch eine Ausbildung als Grafiker konnte er nicht beenden. Er trampte mit Kollegen bis nach Skandinavien, trat nach seiner Rückkehr der sozialdemokratischen Partei bei, hielt schlecht bezahlte Vorträge in der „Sozialistischen Bildungszentrale“. Schließlich brachte er es zu einer kleinen Anstellung in dem von Otto Neurath gegründeten Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum. Die dort entwickelte Methode, Statistiken und andere Abstrakta durch eine besondere Art grafischer Darstellung zu veranschaulichen, machte später in den angelsächsischen Ländern Schule. macht, ein Jahr hat es gedauert, und dann war ich Sachbearbeiterin im Metropolitan Museum of Arts. Alle haben mich beneidet.“ In den USA begann sie auch wieder zu schreiben. ‚‚Nebenei“ leistete sie kulturpolitische Öffentlichkeitsarbeit: als Herausgeberin der Kulturbeilage der ,,Austro American Tribune". Zu ihren ständigen Mitarbeitern gehörten u.a. Berthold Viertel, Bert Brecht, Ferdinand Bruckner und Alfred Polgar, denen sie damit vielfach die Möglichkeit zu einer Erstveröffentlichung bot. Nach dem Krieg, noch vor ihrer Rückkehr, inmitten der langwierigen bürokratischen Vorbereitungen, vertrat sie ein Jahr lang Hedda Korsch, die eine Professur für Deutsche Literatur an einem angesehenen College in der Nähe von Boston innegehabt hatte. 1950 war es so weit, der Moment, den viele Emigranten jahrelang erhofft und viele von ihnen mit uneinlösbaren Erwartungen verbunden hatten, war da: die Rückkehr nach Europa, Österreich, in die Heimat. Sie hatte auch ein Manuskript im Gepäck: „Naiverweise hatte ich mir gedacht, mith mit diesem Roman als Schriftstellerin etablieren zu können. Daraus wurde nichts. Ich bekam das Manuskript von allen Verlagen mit höflichen Worten zurück.“ Die Ablehnung von Manuskripten hat ja manchmal mit deren mangelnder Qualität zu tun, aber als der Roman ,,Der Seelenvogel“ 1986 erschien, rief er seitens der Kritik —- in so renommierten Blättern wie „Die Zeit“ und „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und bei so angesehenen Rezensenten wie Hans Mayer und Harry Neumann — derart außerordentliches Lob hervor, daß dieses Argument nicht zutreffen kann. Da läge vielleicht ein schockierender Inhalt nahe? Weit gefehlt. „Der Seelenvogel‘“ erzählt die Geschichte des sozialen und ökonomischen Aufstiegs einer jüdischen Familie in Wien zwischen 1870 und dem Beginn unseres Jahrhunderts. Dabei entsteht ein historisches und politisches Szenario, dessen Dichte und Authentizität 1986 dieselbe Rezensentin, die 1975 Exilautoren und Exilautorinnen als ‚„‚Karteileichen“ bezeichnet hatte, die Einzigartigkeit von Elisabeth Freundlichs Roman in höchsten Tönen preisen ließ. Tatsächlich steht ihm großes Lob zu, die familiäre Geschichte präsentiert sich so facettenreich, daß sie jenseits des zeitgeschichtlichen Panoramas das komplizierte Verhältnis zwischen ,,Individuum und Historie“ darstellen kann. So außergewöhnlich ist dieses Thema nicht, aber was ist denn eigentlich ein Seelenvogel? 17