„Bei Paulus Diaconus heißt es, daß die
Langobarden über ihren Familiengräbern
eine lange Stange errichteten, auf deren
Spitze ein geschnitzter Vogel saß, der sich
in die Richtung drehte, in der die Länder
lagen, wo die Verwandten verstorben wa¬
ren, wo man sie verscharrt hatte; es war der
Vogel, der ihre Seelen zurückrief, damit sie
Ruhe und Frieden im Familiengrab fän¬
den.“
Der Seelenvogel ist lästig, er will erinnern,
dem Vergessen entreißen, will keine „‚Grä¬
ben zuschütten". Damit aber ließ sich in
Österreich wirklich erst beifälliges Urteil
ernten, als das Gedenken in Konjunktur
kam und in einer schweigsamen Minute
seinen Höhepunkt fand.
Elisabeth Freundlich sieht einen der wich¬
tigsten Gründe für die Ablehnung, auf die
sie lange stieß, in der allgemeinen Ableh¬
nung zurückkehrenden Emigrantinnen ge¬
genüber. Nicht zu unrecht. Aber auch nicht
völlig zurecht. Denn aus ihren Erzählun¬
gen, die ebenfalls 1986 — unter dem Titel
„Finstere Zeiten“ — erschienen, geht her¬
vor, welche (R)Emigranten mit dieser Aus¬
grenzung zu rechnen hatten: diejenigen, die
so lästig waren wie der Scelenvogel, die
nicht anstanden, ihren Kopf in alle Richtun¬
gen zu drehen.
In einer der Erzählungen sagt eine Figur:
„Man muß dem Unrecht wehren, da und
dort, das nimmt uns keiner ab, das ist alles.“
Wenig ist das nicht, gerade im vergangenen
Jahr, in dem Umwälzungen stattfanden, die
bereits jetzt manchmal unter der Über¬
schrift ‚‚Vergangenheitsbewältigung“ ab¬
gehandelt werden, könnte dieser Band noch
einmal als hervorragendes Geschichts- und
Lehrbuch gelesen werden, nicht weil er
nicht für das Thema „Emigration und En¬
gagement“ ein solches wäre, auch nicht,
weil er es nicht für das Thema ,,Remigrati¬
on (nach Österreich) und Entsetzen“ wäre
und so mancher Festrede, die ein ‚‚größe¬
res“ und „großartiges“ Österreich be¬
schwört, schleunigst auf die beiden Füße
und vor Scham in den Erdboden verhelfen
würde, sondern weil er zum Thema ‚,‚Indi¬
viduum und Verantwortung“ allgemein
Fragen stellt und sie nicht gleich gültig be¬
antwortet, sondern sie als das stehen läßt als
was sie sich manchmal stellen: als Ausge¬
setztheit des Individuums an seine Verant¬
wortung. Zum Überfluß ist das Band auch
noch spannend...
Sowenig die Emigration die Aktivität der
Freundlich stoppen konnte, konnten es die
enttäuschenden Erfahrungen nach ihrer
Rückkehr: neben ihren Tätigkeiten als
Feuilletonistin für ausländische und öster¬
reichische Zeitungen, Zeitschriften und
Brunngraber, damals siebenundzwanzigjährig, gab Neurath seinen ersten Roman zu
lesen. Neurath zeigte sich von dessen Psychologismus wenig beeindruckt und meinte,
die Weltwirtschaftskrise und deren Auswirkungen auf den Einzelnen wären ein weit
ergiebigeres und interessanteres Thema. Die Anregung fiel auf fruchtbaren Boden, und
so entstand ,, Karl und das 20. Jahrhundert“, ein Buch, das erstmals Ende 1932 erschien
und infolge der Ereignisse nie die Resonanz fand, die ihm gebührt hätte. Wohl gab es
1933 noch sehr anerkennende Besprechungen in der „Weltbühne‘“ und auch in der
„Frankfurter Zeitung“, aber zu Ende des Jahres wurde das Buch mit der Begründung,
es sei „marxistisch, defaitistisch und pazifistisch“ , verboten.
Es handelt sich um einen jener Arbeitslosenromane, wie ihn auch Bredel, Döblin,
Fallada und Frank geschrieben haben, und von denen Döblins „Berlin Alexanderplatz“
fraglos der bedeutendste und berühmteste war. Wie Döblin verwendet auch Brunngra¬
ber die vom Film übernommene Montagetechnik, die als erster wohl John Dos Passos
in seinem Roman „Manhattan Transfer“ (1925) benutzt hatte. Aber während Döblin
in „Berlin Alexanderplatz“ seinen Helden, Franz Biberkopf, als ,,verwiisteten
Mensch“ und dessen ‚‚Welt- und Sprachlosigkeit“ geschildert hatte (dies ist der Titel
eines Aufsatzes über dieses Buch von Günther Anders aus dem Jahr 1931), arbeitete
Brunngraber den Zusammenhang zwischen den Ursachen dieses Elends und dem
Schicksal seines Helden heraus.
Der Roman setzt mit dem Jahr 1880 ein, obwohl der Held, Karl Lackner, erst dem
Jahrgang 1893 zugehört. Aber 1880 markiert das Jahr, da in den Vereinigten Staaten
der Ingenieur Frederick W. Taylor mit seinen grundlegenden Untersuchungen über
Vereinfachung und Aufgliederung des Arbeitsprozesses begann, damit eine Entwick¬
lung in Gang setzend, die für Brunngraber stets im Vordergrund blieb. Es wechseln
Schilderungen der einzelnen Lebensphasen des sich immer wieder gegen sein Schicksal
aufbäumenden Arbeitslosen mit Dokumenten aus der Weltwirtschaft, die eben diesen
Lebensablauf bestimmt. Gelegentlich wird diese Technik zur Manier und gerät an den
Rand des Lächerlichen. Dennoch, - ein einmaliger Wurf; es folgten rasch Übersetzun¬
gen in viele Sprachen.
In Österreich blieb das Buch auch im Ständestaat erhältlich, der Buchhändler
überreichte es unter dem Ladentisch. Als Österreich annektiert wurde, verlegte sich
Brunngraber auf ausländische Themen. Die Nazi wieder erkannten bald, daß er sich
gut für ihre Propaganda ausnutzen ließ. In der Tat bestand ja eine gewisse Affinität
zwischen der Technikbegeisterung Brunngrabers und der herrschenden Macht. - 1936
erschien „Radium — Roman eines Elements“, Schauplätze: England, Belgien und die
USA, 1939 ‚„Opiumkrieg‘, Schauplatz hauptsächlich China im 19. Jahrhunderts, eine
Anklage der Kolonialpraktiken Englands. Es folgte 1941 ‚„‚Zucker aus Kuba“, Unter¬
titel: „Roman eines Geldrauschs“. Einmal wird Brunngraber in die Reichsschrifttums¬
kammer aufgenommen, dann wieder ausgeschlossen; er hatte Schwierigkeiten mit
diversen politischen Instanzen, geriet auch gelegentlich mit der Gestapo in Konflikt,
wurde aber nichtsdestoweniger ein Erfolgsautor des Dritten Reichs mit sehr hohen
Auflagenziffern. Auch von Firmen kamen Angebote, auf diese Weise entstand etwa
„Buna“, die Geschichte des künstlichen Kautschuks.
»,Opiumkrieg“ wurde zunächst, als es noch unklar war, wie sich die Beziehungen
zu England gestalten würden, verboten; dann aber, als England zum Feind wurde,
willkommen geheißen. Nach Ansicht eines Parteischriftstellers, der einen Filmentwurf
dieses Buches einreichte, war der Stoff ‚wie wenig andere geeignet, den Aufstieg der
Jüdisch-englischen Plutokratie darzustellen, und darüber hinaus ein leidenschaftlicher
Appell zum Sturz der britischen Macht“.
„Radium, Roman eines Elements“ und „‚Opiumkrieg“ sind auch erfolgreiche Hör¬
spiele geworden. Der Hörspielbearbeiter von „Radium“ hieß Günther Eich. In der
einschlägigen Literatur findet man darüber nur, er habe die Handlung „‚gestrafft und
den Gegensatz zwischen den vielversprechenden Verwendungsmöglichkeiten in der
Medizin und den Finanzspekulationen, die mit diesem Element betrieben wurden,
schärfer herausgearbeitet“. Finanzspekulationen, das war nun nach Ansicht der Herr¬
schenden etwas, was ausschließlich Juden betrieben. Sollte sich Eich bei dieser Gele¬
genheit haben entgehen lassen, die Figuren in Stürmer-Manier „‚herauszuarbeiten“ ? Es
sollte ihn ehren. Nur ein Vergleich von Vorlage und Bearbeitung könnte da Auskunft
geben. Das wäre ein Dissertationsthema.
Interessanterweise witterte auch Speer in dem Technokraten Brunngraber einen
Gesinnungsgenossen und wollte ihn 1944 zu einem Buch über die Probleme des
Nachschubs im Krieg gewinnen. Da war Brunngraber aber schon vorsichtiger gewor¬