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Susanne Kalmus Das Dienstmädchen öffnete die Eingangstüre. Der Klavierlehrer Hermann Jünger betrat das Vorzimmer, grüßte knapp, reichte dem Dienstmädchen den abgetragenen Regenmantel. Das Dienstmädchen nahm den Mantel, öffnete die weißen Flügeltüren zum Salon und schloß sie leise hinter ihm. Der Klavierlehrer ging zu dem schwarzglänzenden Flügel, beugte sich über ihn, empfing sein dunkles Spiegelbild. Mit zärtlichem Bedauern glitten seine Hände über das hochpolierte Holz. Mechanisch hob er den Deckel von der Tastatur, lehnte sich dann mit dem Rücken in die Bucht des Klaviers und ließ seinen Blick durch den großen Raum wandern: die schwer-seidenen, flaschengrünen Vorhänge an den beiden nebeneinander liegenden Fenstern, dazwischen der schwarze Schreibtisch des Hausherrn, glatte Kupfergriffe an den Laden, die hellzitronengelben Wände, über die, zart stilisiert, wenige schwarze Notenschlüssel gestreut waren, schwarze verglaste Bücherkästen rechts und links von der schwer in sich ruhenden, schwarzledernen Sitzgarnitur. Er bewunderte immer wieder den vollendeten Stil, die klaren Linien und war zugleich abgestoßen von diesem typischen Beispiel guten Geschmacks der sehr wohlhabenden Intellektuellen, zu dem ihm, Jünger, nur die Wohlhabenheit fehlte. Es war eine seltsame Stadt, diese Stadt, die auch die seine war. Sie war eine jener nicht ganz großen Städte, in denen so manche Leute so manches Mal zu wissen glaubten, sie, ihre Stadt, ihre Kultur seien der Nabel der Welt. Herr Jünger ging zum Fenster, wie jedes Mal, wenn er hierher kam, sah, wie jedes Mal, hinüber zur andren Straßenseite auf das kaisergelbe, vierstöckige Bürgerhaus der Jahrhundertwende, auf das straßenschmale Stück Himmelblau darüber. Eine Frau setzte Stiefmütterchen in einen Balkonblumenkasten. Er holte tief Luft, als wollte er das alles — die warmen Farben und die Luft - in seine Hagerkeit einsaugen, noch bevor die Klavierstunde begann. Wie lange würde er heute auf dieses Kind warten müssen? Wie würde sie heute ihren Eintritt gestalten? In welcher Verkleidung hereintanzen? Sie war da sehr erfinderisch: Seemann, Trommler, brummendes Tier, jeweils mit charakteristischer Geräusch- und Bewegungsbegleitung. Er konnte sich bei wei26. tem nicht mehr an alle Maskeraden erinnern. Höhepunkt dieser Zumutungen war ihr Akrobatenauftritt: im offenen Fenster stand sie auf einem Bein, nur eine Hand am hohen Fensterkreuz. Den freien Arm, das Spielbein hielt sie weit abgespreizt und winkte mit geziert-gestreckter Hand- und Fußspitze. Sie grinste und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, als er erschrak. Ihr Spaß war gelungen. Er wußte, daß sie nur ungern bei ihm Unterricht nahm, diese Neunjährige mit der burschikos-, beinahe militärisch-strammen Art zu gehen und zu sprechen, mit dem unerwartet festen Händedruck. Sie knickste auch nicht wie die anderen kleinen Mädchen, denen er in ähnlichen Salons Klavierstunden gab. Er hatte immer das Gefühl, daß sie ihm die Zunge herausstreckte, wenn er nicht hinsah. Hermann Jünger unterrichtete nur des Geldes wegen. Er empfand diese Beschäftigung eigentlich als Kränkung des Funkens genialer Unendlichkeit, den er glaubte empfangen zu haben, den er pflegte und von dem er sich geführt fühlte. Die Doppeltüre wurde aufgestoßen. Ein Band Beethovensonaten rutschte über den glänzend polierten Parkettboden, von noch unsichtbarer Hand geschleudert, glitt bis vor seine Füße. Sonst kein Laut. Verärgert blickte Hermann Jünger auf die teuren Noten, dann zur Türe. Der Türrahmen blieb leer. Nichts regte sich. Er hob die Noten auf, wischte behutsam darüber, wartete noch einige Augenblicke. Dann setzte er sich ans Klavier, begann zu spielen. Lautes Kindergelächter folgte den ersten Tönen. Das Kind Mona stand in der Türe. Jünger drehte sich um: „Du kommst sehr spät, Mona“, sagte er. Als Antwort sprang sie mit einem Satz aus dem Türrahmen heraus und wirbelte, Rad schlagend, einige Male um das Zimmer, wobei nicht nur ihre dunklen, glatten kurzgeschnittenen Haare der Schwerkraft folgten, sondern auch ihr blaukariertes Faltenröckchen, so daß ihre festen Strümpfe und ein warmes rosa Pluderhöschen sichtbar wurden, das bei Erwachsenen als ,,Liebestéter“ bekannt war. Hermann Jünger schwieg und wandte sich dem Klavier zu. Er begann wieder zu spielen, wußte er doch, daß seine Schülerin schneller ans Klavier kommen würde, wenn er ihre Turnübungen nicht bemerkte. So war es auch. Nach einigen Minuten setzte sich das Kind atemlos links neben den Lehrer und sah ihn herausfordernd an. „Tonleitern“, sagte er tonlos, stand auf, ging im Zimmer auf und ab, während das Kind Tonleitern spielte, über zwei Oktaven hinauf, hinunter, wieder und wieder — wieder und wieder an derselben Stelle stolperte: dort, wo der Daumen, unter dem Zeige- und dritten Finger durch, auf die vierte Note gesetzt werden mußte. „Du hast nicht geübt“, sagte Herr Jünger. „Spiele die ersten fünf Töne dreißig Mal. Los!“ Er stellte sich in die Bucht des Flügels, sein Gesicht dem Kind zugewandt, gab kurze Befehle: ,,Do! - Re! - Mi! - Fa! - So! - Fa! - Mi! - Re! - Do!“ Dazu hackte er mit seinem Absatz auf den Boden und zwang ihr so den Takt auf. Dreißig Mal! — Das schien dem Kind eine Unendlichkeit. Sie fühlte winzige Unwillensblitze in ihren Oberarmen, Nacken und Schultern, in ihrem Rücken. Trotz und Unwille zeigten sich auf ihrem Gesicht. Hermann Jünger sah es. „Vier Oktaven“, sagte er. „Dreißig Mal — und etwas schneller.“ Er beschleunigte das Absatzhacken, unterließ aber die Wortbefehle. Das Kind fühlte sich gehetzt von dem Absatz, versuchte mit ihm Schritt zu halten, versuchte sich durch den aufgetürmten Berg von dreißig Mal vier Oktaven durchzuzwingen. Dabei stolperte sie immer häufiger über ihre Finger. Jünger, in seiner Bucht, schien es nicht mehr zu bemerken. Hin und wieder sah sie zu ihm auf. Sein Blick war jetzt, über ihren Kopf, ins Unbestimmte gerichtet. „Wenn - im - Lan - de - der - Dich - ten - den - Den - ken - den“, sagte Jünger abgehackt, im Absatztakt, „Men - schen - an - Te-le gra - phen - ma - sten - hän - gen -.“ Das Kind hörte Jüngers Worte, aber wie vieles, was er sagte, machten sie keinen Sinn, und es spielte weiter Tonleitern. „Men - schen - hän - gen - an - den Ma sten - . Ih - re - Ge - dar - me - an - Te - le - gra - phen - dräh - ten“, sagte Jünger, die letzte Silbe des Wortes ,,Gedarme“ betonend. „Das ist unappetitlich!“ Mona sagte es heftig und stand auf. Sie nahm den Sonatenband und schlug eine dicht mit Noten bedruckte Seite auf. „Das hier, das will ich spielen.“ Sie sagte es bestimmt und legte Herrn Jünger die Noten vor. Jünger holte sich und seinen Blick zurück aus der Unbestimmtheit. Er sah auf die