Das Dienstmädchen öffnete die Eingangstü¬
re. Der Klavierlehrer Hermann Jünger betrat
das Vorzimmer, grüßte knapp, reichte dem
Dienstmädchen den abgetragenen Regen¬
mantel. Das Dienstmädchen nahm den Man¬
tel, öffnete die weißen Flügeltüren zum Sa¬
lon und schloß sie leise hinter ihm. Der Kla¬
vierlehrer ging zu dem schwarzglänzenden
Flügel, beugte sich über ihn, empfing sein
dunkles Spiegelbild.
Mit zärtlichem Bedauern glitten seine Hände
über das hochpolierte Holz. Mechanisch hob
er den Deckel von der Tastatur, lehnte sich
dann mit dem Rücken in die Bucht des Kla¬
viers und ließ seinen Blick durch den großen
Raum wandern: die schwer-seidenen, fla¬
schengrünen Vorhänge an den beiden neben¬
einander liegenden Fenstern, dazwischen der
schwarze Schreibtisch des Hausherrn, glatte
Kupfergriffe an den Laden, die hellzitronen¬
gelben Wände, über die, zart stilisiert, weni¬
ge schwarze Notenschlüssel gestreut waren,
schwarze verglaste Bücherkästen rechts und
links von der schwer in sich ruhenden,
schwarzledernen Sitzgarnitur.
Er bewunderte immer wieder den vollen¬
deten Stil, die klaren Linien und war zu¬
gleich abgestoßen von diesem typischen
Beispiel guten Geschmacks der sehr wohl¬
habenden Intellektuellen, zu dem ihm, Jün¬
ger, nur die Wohlhabenheit fehlte.
Es war eine seltsame Stadt, diese Stadt, die
auch die seine war. Sie war eine jener nicht
ganz großen Städte, in denen so manche
Leute so manches Mal zu wissen glaubten,
sie, ihre Stadt, ihre Kultur seien der Nabel
der Welt.
Herr Jünger ging zum Fenster, wie jedes
Mal, wenn er hierher kam, sah, wie jedes
Mal, hinüber zur andren Straßenseite auf
das kaisergelbe, vierstöckige Bürgerhaus
der Jahrhundertwende, auf das straßen¬
schmale Stück Himmelblau darüber. Eine
Frau setzte Stiefmütterchen in einen Bal¬
konblumenkasten.
Er holte tief Luft, als wollte er das alles —
die warmen Farben und die Luft - in seine
Hagerkeit einsaugen, noch bevor die Kla¬
vierstunde begann.
Wie lange würde er heute auf dieses Kind
warten müssen?
Wie würde sie heute ihren Eintritt gestal¬
ten? In welcher Verkleidung hereintanzen?
Sie war da sehr erfinderisch: Seemann,
Trommler, brummendes Tier, jeweils mit
charakteristischer Geräusch- und Bewe¬
gungsbegleitung. Er konnte sich bei wei¬
tem nicht mehr an alle Maskeraden erin¬
nern.
Höhepunkt dieser Zumutungen war ihr
Akrobatenauftritt: im offenen Fenster
stand sie auf einem Bein, nur eine Hand am
hohen Fensterkreuz. Den freien Arm, das
Spielbein hielt sie weit abgespreizt und
winkte mit geziert-gestreckter Hand- und
Fußspitze. Sie grinste und fuhr sich mit der
Zunge über die Zähne, als er erschrak. Ihr
Spaß war gelungen.
Er wußte, daß sie nur ungern bei ihm Un¬
terricht nahm, diese Neunjährige mit der
burschikos-, beinahe militärisch-stram¬
men Art zu gehen und zu sprechen, mit
dem unerwartet festen Händedruck. Sie
knickste auch nicht wie die anderen klei¬
nen Mädchen, denen er in ähnlichen Salons
Klavierstunden gab. Er hatte immer das
Gefühl, daß sie ihm die Zunge heraus¬
streckte, wenn er nicht hinsah.
Hermann Jünger unterrichtete nur des Gel¬
des wegen. Er empfand diese Beschäfti¬
gung eigentlich als Kränkung des Funkens
genialer Unendlichkeit, den er glaubte
empfangen zu haben, den er pflegte und
von dem er sich geführt fühlte.
Die Doppeltüre wurde aufgestoßen. Ein
Band Beethovensonaten rutschte über den
glänzend polierten Parkettboden, von noch
unsichtbarer Hand geschleudert, glitt bis
vor seine Füße. Sonst kein Laut.
Verärgert blickte Hermann Jünger auf die
teuren Noten, dann zur Türe. Der Türrah¬
men blieb leer. Nichts regte sich.
Er hob die Noten auf, wischte behutsam
darüber, wartete noch einige Augenblicke.
Dann setzte er sich ans Klavier, begann zu
spielen.
Lautes Kindergelächter folgte den ersten
Tönen. Das Kind Mona stand in der Türe.
Jünger drehte sich um: „Du kommst sehr
spät, Mona“, sagte er. Als Antwort sprang
sie mit einem Satz aus dem Türrahmen
heraus und wirbelte, Rad schlagend, einige
Male um das Zimmer, wobei nicht nur ihre
dunklen, glatten kurzgeschnittenen Haare
der Schwerkraft folgten, sondern auch ihr
blaukariertes Faltenröckchen, so daß ihre
festen Strümpfe und ein warmes rosa Plu¬
derhöschen sichtbar wurden, das bei Er¬
wachsenen als ,,Liebestéter“ bekannt war.
Hermann Jünger schwieg und wandte sich
dem Klavier zu. Er begann wieder zu spie¬
len, wußte er doch, daß seine Schülerin
schneller ans Klavier kommen würde,
wenn er ihre Turnübungen nicht bemerkte.
So war es auch.
Nach einigen Minuten setzte sich das Kind
atemlos links neben den Lehrer und sah ihn
herausfordernd an.
„Tonleitern“, sagte er tonlos, stand auf,
ging im Zimmer auf und ab, während das
Kind Tonleitern spielte, über zwei Okta¬
ven hinauf, hinunter, wieder und wieder —
wieder und wieder an derselben Stelle stol¬
perte: dort, wo der Daumen, unter dem
Zeige- und dritten Finger durch, auf die
vierte Note gesetzt werden mußte.
„Du hast nicht geübt“, sagte Herr Jünger.
„Spiele die ersten fünf Töne dreißig Mal.
Los!“
Er stellte sich in die Bucht des Flügels, sein
Gesicht dem Kind zugewandt, gab kurze
Befehle: ,,Do! - Re! - Mi! - Fa! - So! - Fa!
- Mi! - Re! - Do!“ Dazu hackte er mit
seinem Absatz auf den Boden und zwang
ihr so den Takt auf.
Dreißig Mal! — Das schien dem Kind eine
Unendlichkeit. Sie fühlte winzige Unwil¬
lensblitze in ihren Oberarmen, Nacken und
Schultern, in ihrem Rücken. Trotz und Un¬
wille zeigten sich auf ihrem Gesicht.
Hermann Jünger sah es.
„Vier Oktaven“, sagte er. „Dreißig Mal —
und etwas schneller.“ Er beschleunigte das
Absatzhacken, unterließ aber die Wortbe¬
fehle.
Das Kind fühlte sich gehetzt von dem Ab¬
satz, versuchte mit ihm Schritt zu halten,
versuchte sich durch den aufgetürmten
Berg von dreißig Mal vier Oktaven durch¬
zuzwingen. Dabei stolperte sie immer häu¬
figer über ihre Finger.
Jünger, in seiner Bucht, schien es nicht
mehr zu bemerken. Hin und wieder sah sie
zu ihm auf. Sein Blick war jetzt, über ihren
Kopf, ins Unbestimmte gerichtet.
„Wenn - im - Lan - de - der - Dich - ten - den
- Den - ken - den“, sagte Jünger abgehackt,
im Absatztakt, „Men - schen - an - Te-le ¬
gra - phen - ma - sten - hän - gen -.“
Das Kind hörte Jüngers Worte, aber wie
vieles, was er sagte, machten sie keinen
Sinn, und es spielte weiter Tonleitern.
„Men - schen - hän - gen - an - den Ma ¬
sten - . Ih - re - Ge - dar - me - an - Te - le
- gra - phen - dräh - ten“, sagte Jünger, die
letzte Silbe des Wortes ,,Gedarme“ beto¬
nend.
„Das ist unappetitlich!“ Mona sagte es
heftig und stand auf. Sie nahm den Sona¬
tenband und schlug eine dicht mit Noten
bedruckte Seite auf.
„Das hier, das will ich spielen.“ Sie sagte
es bestimmt und legte Herrn Jünger die
Noten vor.
Jünger holte sich und seinen Blick zurück
aus der Unbestimmtheit. Er sah auf die