Hier konnten sie testen, wie weit sie mit den
Juden gehen konnten, ohne daß die Welt
reagierte.“
„Paul Grüninger erklärte schon bei seiner
ersten Einvernahme nach der Eröffnung
der administrativen Untersuchung am
30.3.34 u.a. folgendes [...]: ‘Die Rückwei¬
sung (der) Emigranten war für die mit die¬
ser Aufgabe betrauten Organe eine sehr
schwere Sache. Die Emigranten, die in tief¬
ster seelischer und materieller Not waren,
wehrten sich verzweifelt gegen die Rück¬
schaffung. Es ereigneten sich schreckliche
Szenen, durch welche der Polizei und dem
Zoll die Erfüllung der Aufgabe beinahe
unmöglich wurde ...’.“
„Zu drakonischen Maßnahmen griff der
Bundesrat, als in den Wochen nach dem
Anschluß 3000 Jüdinnen und Juden in die
Schweiz geflüchtete waren. Er ordnete Vi¬
sumpflicht an [...] “Wenn wir einer unseres
Landes unwürdigen antisemitischen Bewe¬
gung nicht berechtigten Boden schaffen
wollen, müssen wir uns mit aller Kraft und,
wenn nötig, auch mit Rücksichtslosigkeit
der Zuwanderung ausländischer Juden er¬
wehren, ganz besonders von Osten her.’
(Begründung laut Antrag).“
„Diese Beschlüsse waren nicht nur offen
rassistisch, wie das auch der Bundesrat im
Juni 1994 erstmals einräumte, sondern ver¬
letzten schon nach damaligem Recht
grundlegende rechtliche Prinzipien mit
Verfassungsrang ...“
„Die den Flüchtlingen drohende Gefahr war
so groß, daß sie nicht nur die illegale Einreise
und die illegale Bewilligung des Aufenthalts
durch Paul Grüninger rechtfertigte, wofür er
nicht bestraft wurde, sondern auch die ihm im
1940er Urteil vergeworfenen Deckungs¬
handlungen, Datenverschiebungen und Li¬
stenbereinigungen.“
„Damit ist ... dargetan, daß der Rechtferti¬
gungsgrund der Notstandshilfe erfüllt ist
und Paul Grüninger freigesprochen werden
muß ...“
wenn ich auf der Straße aufgegriffen worden wäre, sofort zurückgeschickt worden.
Meine Emigration begann auch damit, daß ich meinen Mann kennengelernt habe. Karl
war bei der Flüchtlingshilfe der St. Galler Kultusgemeinde beschäftigt und hatte die
Aufgabe, mich in ein Flüchtlingsheim zu bringen. 1941 haben wir geheiratet, und unsere
Ehe besteht nun schon seit 53 Jahren. 1944 kam mein Sohn in St. Gallen zur Welt. Meine
Tochter ist schon eine echte Wienerin, 1946 wurde sie in der Semmelweis-Klinik geboren.
Nach Kriegsausbruch war Karl in einem Arbeitslager interniert, Straßenbau im
Engadin, vermutlich für militärische Zwecke. Einmal im Monat hatte er Ausgang. Im
Lager traf er Menschen aus verschiedensten politischen Richtungen, die, trotz oft
gegenteiliger Meinungen; in einer Sache einig waren: Sie waren alle Antifaschisten.
Diese Idee hat damals viele zusammengebracht.
Mein Mann hatte das Glück, mit Unterstützung schweizerischer Freunde 1942 eine
Tischlerlehre in St. Gallen antreten zu können, weil er als Wasserballspieler und Trainer
für die Schwimmer gewünscht wurde. Er hat seine Schreinerlehre mit der Gesellenprü¬
fung nach drei Jahren 1945 abgeschlossen.
Ab 1942 konnten wir dann gemeinsam in St. Gallen leben, in einer eigenen, wenn
auch winzigen Wohnung. Dort hatten wir mit einigen österreichischen Freunden
Zusammenkünfte. Wir suchten Antwort auf die Frage, wie es möglich sei, eine Welt
aufzubauen, in der es keine Verfolgungen, keine Kriege, in der es ein friedliches
Nebeneinander gebe. Diese Ideale wollten wir in einem vom Faschismus befreiten
Österreich verwirklichen. Wir wollten mithelfen und dabei sein, wenn ein demokrati¬
sches Österreich errichtet wurde
Mit Interesse und der Tatsache bewußt, daß unser Leben davon abhing, verfolgten
wir die Kriegslage. Daß unsere Sympathie damals der Roten Armee galt, war selbst¬
verständlich. Es war eine harte Zeit. Wir lebten von einer Unterstützung, und diese
Abhängigkeit haben wir auch dauernd zu spüren bekommen. Dennoch war es eine Zeit
der Persönlichkeitsbildung.
Im Oktober 1945 sind mein Mann und ich nach Österreich, nach Wien zurückge¬
kommen. Voller Ideale. Vieles, sehr vieles ist uns nicht gelungen, viele Enttäuschungen
mußten wir hinnehmen. Trotzdem glaube ich, daß wir ein wenig dazu beigetragen
haben, in Österreich eine Demokratie aufzubauen.
Und wenn ich jetzt darüber schreibe und meinen Erinnerungen nachgehen kann, so
habe ich das einem St. Galler Beamten zu verdanken.
Es war der Polizeihauptmann Paul Grüninger. Er hat mir das Leben gerettet, und er
hat 3.000 österreichischen jüdischen Flüchtlingen nach der Sperre der Grenze den
Aufenthalt in der Schweiz ermöglicht. Für dieses Vorgehen mußte er schwer büßen.
Als ich damals mit meinem Bruder bei ihm vorsprach, hat er nicht viel gesprochen. Ich
sehe ihn noch vor mir, ein Film, der immer wieder vor mir abläuft. Ich komme bei der
Tür herein, er steht links vor mir, die Hände am Rücken verschränkt; mit einem Zwicker
auf der Nase. Er hat sich meine Geschichte angehört, meinte, es werde alles erledigt,
und ich sollte nur gleich zur Flüchtlingshilfe gehen. Er war ein Humanist, der seine
Pflicht darin sah, Menschen zu retten, es war die Pflicht des Herzens. Es hat im Dritten
Reich auch „pflicht“bewußte Menschen gegeben, die für die Ermordnung von sechs
Millionen Juden verantwortlich sind.
Später, nach dem Novemberpogrom 1938 versuchten auch meine Eltern, in die
Schweiz zu gelangen. Ich habe noch mit meinem Vater telephoniert, der mit meiner
Mutter nach Hohenems an die Schweizer Grenze gekommen war. Mein Bruder und ich
sind wieder zu Paul Grüninger gegangen. Ich habe den Fall erzählt. Mein Vater war
eingesperrt, aber dann wieder entlassen worden. „Ich kann nichts mehr tun“, hat
Grüninger gesagt. Wenig später, im März 1939, wurde er seines Amtes enthoben und
1941 wegen Urkundenfälschung verurteilt. Meine Eltern sind 1942 nach Theresienstadt
deportiert und im Mai 1944 in Auschwitz ermordet worden.
Am 27. November 1995 wurde das Verfahren gegen Paul Grüninger in St. Gallen
wiederaufgenommen. Alle Welt war vetreten, BBC, ARD, CNN, sogar eine japanische
Fernsehanstalt. Das italienische Fernsehen lud Ruth Roduner, Paul Grüningers Tochter,
und mich zu einem Live-Interview nach Rom ein. Nur der ORF war nicht da. Voll
Empörung habe ich in Wien angerufen: „Ich als Wiener Jüdin, Österreicherin, die von
Paul Grüninger gerettet wurde, bin hier dabei, nur mein Land ist nicht dabei...“ Der
Freispruch für Grüninger wurde am 30. November kurz gemeldet.
Die Erinnerung an meine Emigration in die Schweiz verbinde ich mit dem Gefühl
der Dankbarkeit gegenüber diesem großartigen, gütigen Humanisten Paul Grünin¬
ger.