gon, und man stieß die Leiche einfach aus
dem Zug. Der Geruch des Urins und der
Exkremente. Dann geschah ein Wunder.
Wir blieben stehen und plötzlich warf je¬
mand gekochte Kartoffel in den Waggon.
Wir hörten Rufe in tschechischer Sprache.
Wir rauften um die warmen Knollen, die
aus dem Nichts gekommen schienen. Ein
Geschenk wundervoller Menschen. Mo¬
niek und ich waren schneller und geschick¬
ter als andere, es gelang uns, etwa fünf
Kartoffel zu erobern, die wir sofort ver¬
schlangen.
Dann fuhr der Zug weiter und am nächsten
Morgen kamen wir nach Amstetten in Nie¬
derösterreich. Man trieb uns aus dem Zug.
Reinigungstrupps säuberten die Waggons,
und wir marschierten längere Zeit über
Hügel und Felder, bis wir schließlich an
unser schreckliches Ziel gelangten, das KZ
Mauthausen. |...]
Gleich nach unserer Ankunft wurden wir
in solchen Massen in die Baracken ge¬
pfercht, daß wir uns nachts nicht hinlegen
konnten. Wir mußten daher am Boden sit¬
zend schlafen. Wir saßen derart eng beiein¬
ander, daß ich an eine große Anzahl Ku¬
verts denken mußte, die man aufklappt und
übereinander legt, um sie besser und
schneller zukleben zu können. Jede Nacht
war ein Alptraum. Glücklicherweise blie¬
ben wir dort nicht lang, insgesamt etwa
vierzehn Tage.
Es war an einem Nachmittag in dieser ärm¬
lichen Baracke, daß mein Bruder in Ohn¬
macht fiel. Sein abgenutzter und ausge¬
hungerter Körper konnte die unmensch¬
liche Behandlung nicht länger ertragen.
Ich hielt ihn in meinen Armen. Er konnte
sich vorerst rasch wieder erholen, lächelte
mir zu und sagte: „„Was war denn das? Ich
muß schon sehr müde gewesen sein.“ Aber
ich wußte, daß es meinem Bruder sehr
schlecht ging.
Nach diesem Vorfall begann mich Moniek
darauf vorzubereiten, was unvermeidlich
erschien, nämlich, daß wir von einander
getrennt werden könnten. Er sagte mir im¬
mer wieder: „Hör zu, Romek, du darfst
nicht klein beigeben, falls wir getrennt
werden sollten! Sei nicht so deprimiert wie
gestern! Es wird nicht lange dauern. Die
Nazis verlieren den Krieg. Wir müssen
überleben! Wir werden bald wieder zu¬
sammen sein und frei... Sehr bald!“ Ich
versprach ihm, tapfer zu sein.
In Wirklichkeit ahnte ich, was bevorstand.
Eines Tages wurden wir zur Arbeit im
Mauthausener Steinbruch ausgewählt.
Wie wir diese Tortur, das Tragen schwerer
Felsbrocken dreiundsiebzig hohe Stufen
hinauf und wieder hinunter, und das einen
ganzen Tag lang, überlebten, ist mir immer
noch ein Rätsel. Wir halfen einander, so
gut es ging, blieben kurz stehen, tauschten
die Last untereinander, sprachen einander
Mut zu. Ich glaube, da war wieder einmal
jemand gnädig, denn am Nachmittag be¬
gann es so stark zu regnen, daß die Arbeit
im Steinbruch früher abgebrochen wurde.
Nach diesem Tag unternahmen wir alles, um
nicht für den Steinbruch selektiert zu werden.
Wir meldeten uns sogar freiwillig für andere
schlechte Arbeiten: Latrinenputzen,
StraBenarbeiten, Entladen von Lkws.
Wie wir beiden die täglichen Musterungen
der KZ-Insassen auf dem Appellplatz von
Mauthausen, jeden Morgen und jeden
Abend, überstanden, wie wir geschlagen
wurden, wie man uns beschimpfte und lä¬
cherlich machte, übersteigt jede Vorstel¬
lungskraft. Wehe dem, der bei einem solchen
Appell als Opfer auserkoren wurde. Abgese¬
hen von den Striemen und Blutergüssen,
wurden die Mitgefangenen auch noch ge¬
zwungen, das jeweilige Opfer zu verhöhnen.
Die SS-Leute und ihre unterwürfigen Kapos
suchten sich ein Opfer aus und mißhandelten
es, damit sich die Vertreter der ,,Herren¬
rasse‘“ amüsieren und abreagieren konnten.
Die „Herren“ unterhielten sich, und ihre
Untergebenen, die Kapos, ernteten ein Lä¬
cheln oder ein Lob. Diese Kapos, meist deut¬
sche oder österreichische Kriminelle, waren
ausgesprochene Sadisten.
Der Nachmittagsappell in Mauthausen er¬
innerte an ein Bacchanal im Theater. Der
SS-Führer, wahrscheinlich der Lagerkom¬
mandant, kam aus der Kommandantur, be¬
gleitet von seinen Adjutanten, die ihrer¬
seits von ihren bevorzugten Kapos eskor¬
tiert wurden. Ich erinnere mich, daß der
Kommandant sich eines Nachmittags un¬
garische Zwillinge, Bürschchen im Alter
von dreizehn oder vierzehn Jahren, als
Maskottchen aussuchte. Sie sahen herzig
aus, hatten Stupsnasen und stammten aus
der Stadt Munkäcs in den ruthenischen
Karpaten. Sie mußten dann immer neben
ihm herlaufen, wie seine Hofnarren, erhiel¬
ten viele Privilegien, zusätzliche Rationen,
bessere Kleidung. Ich frage mich, ob diese
Zwillinge überlebt haben. Ob nicht doch
bei all diesen Maskeraden eine gewisse
Homosexualität eine Rolle gespielt hat. Ich
vermute, daß viele dieser Nazigrößen Pä¬
derasten und Perverse waren, daß sie die
Kapos gebrauchten und diese sich wieder¬
um ihre Opfer aus der Masse junger Kna¬
ben aussuchten, von denen es im Lager
viele gab.
Das Leben in Mauthausen, wenn man es
als ein solches bezeichnen kann, war uner¬
träglich, aber Moniek und ich waren noch
zusammen, und wir gaben einander Kraft,
indem wir unsere Rationen teilten und
auch über die im Lager kursierenden Ge¬
rüchte und über unsere Erwartungen spra¬
chen. Wir hatten wenigstens noch einan¬
der. Aber eines kalten Tages im Februar
1945 kam das Gerücht auf, daß das Lager
evakuiert werde. Und schon am nächsten
Tag wurde für den Nachmittag eine Selek¬
tion angesetzt.
Zu meinem Entsetzen wies der leitende
SS-Offizier Moniek auf die eine Seite und
mich auf die andere. Wir versuchten trotz¬
dem, wieder zueinander zukommen. Doch
wurde meine Gruppe rasch weggebracht,
wir wurden geduscht und erhielten neue
Kleider. Alles ging so schnell, daß mir
kaum bewußt wurde, daß ich von meinem
Bruder getrennt worden war.
Am selben Abend wurden wir auf offene
Frachtwaggons verladen, und als der Zug
langsam aus dem Lager fuhr, sah ich mei¬
nen geliebten Bruder Moniek zum letzten
Mal. Der Zug blieb noch einmal stehen,
und ich muß vor Angst und Kälte gezittert
haben. Und da warf mir Moniek, dessen
reine Seele im Himmel sein muß, wenn es
einen solchen Ort überhaupt gibt, seine
Jacke zu. Das letzte, was ich von meinem
Bruder sah, war seine zarte, ausgemergelte
Figur. Er stand da und winkte mir zu. Ich
kann mir die Schläge vorstellen, die er
erhielt, weil er ohne Jacke war. Ich glaube
bis jetzt, daß der Allmächtige ins Gesche¬
hen eingriff, um uns zu trennen. Er wollte
mir ersparen, Moniek in meinen Armen
sterben zu sehen.
Am nächsten Morgen wurde ich, das erste
Mal allein, ohne Moniek, in ein KZ in
Melk gebracht, einem kleinen Ort an der
Donau. Auf einem Felsen über dem Fluß
steht dort ein riesiges Kloster, das Stift
Melk. Das Lager selbst befand sich eben¬
falls auf einer Anhöhe in einer Kaserne
gegenüber dem Stift. Wohin man auch
schaute, sah man dieses mächtige Stift mit