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Viele Jahre später, der Krieg war längst zu
Ende, begegnete ich irgendwo dem Ober¬
sten a.D. Nichts war zurückgeblieben von
seiner einstigen Stattlichkeit. Er schien um
einen Kopf kürzer geworden zu sein und
an Stelle des Schmerbauches hingen ein
paar armselige Hautfalten. Anstatt der
prunkvollen Uniform trug er ein faden¬
scheiniges Mäntelchen und auf dem Kopf
einen grauen, fettigen Filzhut. Nur die um¬
gehängte khakifarbene Zeltstofftasche er¬
innerte an den Militärdienst. Die Riemen
hatte er sich quer über die Brust gespannt
wie einst die Koppel, und die Hand lag auf
einem nichtexistierenden Degen.

Ich sprach ihn an.

Wir waren einmal Nachbarn, Herr Oberst,
erinnern Sie sich?

Er antwortete nicht. Er schien mich auch
nicht zu sehen. Nur ein unverständliches
Gemurmel kam über seine Lippen.

Shulamit Arnon

An die Bücher... an die Bücher, die Sie
verheizt haben, erinnern Sie sich?

Jetzt streifte sein leerer Blick mein Antlitz.
Nicht das geringste Zucken verriet, daß er
mich erkannt hatte. Mir war klar, daß er
nicht wußte, wer vor ihm stand.

War’s nicht schade um die schönen Bü¬
cher? frotzelte ich ihn.

Auch andere hatten Bücher verbrannt,
wenn auch nicht aus derart prosaischen
Gründen.

Endlich reagierte er. Dem Gesichtsaus¬
druck nach war es eine unangenehme Er¬
innerung, die da plötzlich auftauchte. Tat
es ihm leid? Hatte er Gewissensbisse?

Ich horchte genau hin, als seine Lippen
sich zu bewegen begannen.

Bücher... Bücher brennen nicht gut, mur¬
melte er, sie glimmen nur und geben keine
Wärme.

Ja, wir sind Cousinen, denn es waren un¬
sere so verschiedenen Väter, die Brüder
waren und doch keine Ähnlichkeit mitein¬
ander hatten: Dein Vater, Lea, der gebore¬
ne Gentleman und erfolgreicher Kaufmann
und Lebemann, mein Vater, der weltfrem¬
de Idealist, Rechtsanwalt von Beruf, und in
Palästina jahrelang von seinem Bruder fi¬
nanziell abhängig. Dein Vater, Lea heira¬
tete die bildschöne Medizinstudentin Gu¬
sta Nachmansohn aus Dänemark, mein
Vater den unschönen Blaustrumpf aus der
Provinz, denn obwohl er unheimlich gebil¬
det und belesen war, hatte er Minderwer¬
tigkeitskomplexe, die er eigentlich nie
überwunden hat.

Die Geschichte der Familie Schlossberg ist
typisch für viele ostjüdische Familien am
Anfang unseres Jahrhunderts. Die Immi¬
gration aus dem für Juden gefährlichen
Rußland, die Ansiedlung in Königsberg,
die akademische Bildung, die Aktivität in
der zionistischen Bewegung, die Ableh¬
nung der strengen, starren Religion, neue
Ideale. Leas Vater (Herrman Jefim, ge¬
nannt Fima) verließ mit Frau und Töchtern
Deutschland vor der Machtergreifung und
ging nach dem damals noch primitivem
Palästina. Er baute in Tel-Aviv das erste
europäische Hotel ‚„Palatin“. Es gelang
ihm, in kurzer Zeit im Land Fuß zu fassen
und seiner Familie einen Lebensstandard
zu ermöglichen, der damals etwas Unge¬
wöhnliches war. (Wer besaß damals ein

36.

Auto? Eine Vier-Zimmer-Wohnung und
einen Kühlschrank?)

Wir blieben bis Februar 1939 in Berlin, da
mein Vater zionistischer Propagandist war
und bis zur letzten Minute durch Deutsch¬
land fuhr, um Juden zu überzeugen,
Deutschland zu verlassen und nach Palästi¬
na zu gehen.

An einem wunderschönen Februartag ka¬
men wir erschöpft in Tel-Aviv an. Fima
holte uns vom Hafen ab und ihr wartetet
am Fenster eurer Wohnung. Gusta, eure
Mutter, du Lea, und Aviva, deine ältere
Schwester. Du hattest lange, glänzende,
pechschwarze Haare und helle blaue Au¬
gen, und auch Aviva war schön wie die
Mutter. Ich zupfte verschämt an meinen
europäischen Kleidern. In diese neue Welt
paßte ich nicht hinein, zwinkerte geblendet
in die Sonne, suchte Schatten und fühlte
mich unsagbar häßlich neben meinen schö¬
nen Cousinen.

„Ein Ghettokind“, sagte die Großmutter
abfallig, als sie mich sah. ,,Ein altkluges
Ghettokind“ , da mein Vater stolz erzählte,
daB ich schon Dostojewskij las...

Erste Eindriicke: Die Esel und Kamele auf
der StraBe, 50 Apfelsinen fiir einen Piaster
(Groschen), die Schmerzen nach der Ty¬
phusspritze, eure gepflegte Wohnung, das
erste Frühstück am runden Tisch im
Wohnzimmer, die mir fremde süße Mar¬
melade, türkischer roter Kaviar, ich dachte,
es würde auch bei uns so unbeschwert und

elegant sein und wußte noch nicht, daß
damals nicht alle Kaviar aßen...

„Du mußt dir andere Kleider kaufen“, sag¬
te Lea, ‚hier trägt man keine Wollröcke
mit einem Schlitz, hier trägt man kurze
Hosen!“

„Du mußt die Sprache lernen. Hier spricht
man nicht Deutsch, Deutsch ist doch die
Sprache unserer Feinde!“

Ich kniff mich in die Backen, um nicht so
europäisch farblos zu sein — aber es half
nicht, denn mit dir konnte ich nicht kon¬
kurrieren. Du. Die schöne, vom Vater ver¬
götterte Lea, Mittelpunkt jeder Gesell¬
schaft, Königin der Klasse und dabei wild
wie ein Straßenjunge. Von dir lernte ich,
vom Balkon aus auf Fußgänger zu
spucken, Leute auf der Straße anzurem¬
peln, Katzen zu verscheuchen und vieles
mehr.

Und dann deine unmögliche Frage:
„Willst du Erdbeeren mit Schlagsahne
oder Hustenbonbons?“

Später lernten wir im selben Gymnasium
und wurden immer miteinander vergli¬
chen: „‚„Deine Cousine Lea ist fleißiger als
du!“ Ich schaffte es auch ohne Fleiß, war
es doch die einzige Möglichkeit, mich zu
behaupten oder auch nur beachtet zu wer¬
den, denn da stand sie auf dem sandigen
Schulhof, der graue moderne Winterman¬
tel zog alle Blicke an. Wer hatte damals
einen Mantel? Man begnügte sich mit einer
Jacke oder einem dicken Pullover. Sie
stand, warf ihre schwarze Mähne lachend
über die Schulter und ließ sich bewundern.
Ich war schon lange nicht mehr die schüch¬
terne blasse Immigrantin, trug wie alle kur¬
ze Hosen und Sandalen und war ziemlich
selbstbewußt, aber ich mußte dafür schwer
kämpfen.

Dann kam die Liebe und Bewunderung der
Männer. Sie ließ sich gleichgültig anbeten,
bevorzugte auch den einen oder den ande¬
ren, bis sie eines Tages einen jungen blon¬
den Mann auf der Bank sitzen sah, an der
sie täglich auf ihrem Schulweg vorbeiging.
Er war immer in seine Zeitung vertieft und
schien sie nicht zu bemerken. Das traf sie
und eines Tages ging sie auf ihn zu und
sagte herausfordernd: „Hallo, ich heiße
Lea Schlossberg!“

„Und ich heiße Jitzchak Rabin“, antwor¬
tete der Mann, der eigentlich noch ein Jun¬
ge war.

Mittlerweile schloß sie sich dem Palmach
an: Kommandotruppe der Hagana von
1941 bis zur Staatsgründung. „Hagana“,
Selbstschutz der organisierten palastinän¬
sischen Juden während der Mandatszeit
(1920-1948).

Lea als Kämpferin? Und Jitzchak? Jitz¬