„Wir wollten nur das Paradies
auf Erden“
Einer ersten Begegnung Prive Friedjungs und
Albert Lichtblaus folgten zahlreiche Interviews
über Jahre. Diese intensiven Gespräche, die —
darauf wird eigens hingewiesen — auch außer¬
gewöhnliche kulinarische Ereignisse waren, er¬
gaben eine unglaubliche Materialfülle, die Sa¬
bine Jahn für das vorliegende Buch bearbeitet
hat.
Die Einleitung enthält wichtige Informationen
über die historische Situation der Bukowina mit
den vielen Sprachgruppen und Religionen, den
Geburtsort von Prive Friedjung, Zadowa, und
schließlich über die Protagonistin selbst und
ihre politische Haltung. In einem kurzen Kapi¬
tel werden die angewandte Methode, also der
Umgang mit Oral History, der Unterschied zwi¬
schen geschriebener und erzählter Erinnerung
und der kontinuierlich sich verändernde Prozeß
des Sich-Erinnerns problematisiert.
Prive Friedjung hat, indem sie aus ihrem ab¬
wechslungsreichen Leben erzählte, nicht nur
Sabine Jahn und Albert Lichtblau auf Zadowa
und seine Umgebung so neugierig gemacht, daß
sie schließlich dort hinfuhren, sondern ent¬
schloß sich 1990, wider aller Erwartungen, mit
92 Jahren, selbst noch einmal den Ort ihrer
Kindheit und Jugend aufzusuchen. Der Bildteil
in der Mitte des Buches dokumentiert diese
Reisen. Die Erzählungen und schriftlichen Be¬
richte von Prive Friedjung sind vier chronolo¬
gischen Schwerpunkten (Kindheit und Jugend,
Zwischenkriegszeit in Wien, in der Sowjetuni¬
on, Wien nach 1945), zugeordnet.
Die prägenden Faktoren bis zum Erwachsen¬
werden waren Familie und orthodoxes Juden¬
tum. Prive Friedjungs Vater war streng gläubi¬
ger Jude und Schächter. Mit zahlreichen Ge¬
schwistern wuchs sie in großer Bescheidenheit
im Kreise der jüdischen Gemeinde im kleinen
Ort Zadowa auf. Mit einem Hauch Nostalgie
wird von jüdischen Festtagen, wie z.B. Sabbat,
Pessach, Torafest und Jom Kippur, erzählt und
so den LeserInnen in einer liebevoll persönli¬
chen Art nähergebracht. Der 1. Weltkrieg
zwang die Familie vorübergehend zur Flucht.
Wieder in die Bukowina zurückgekehrt, be¬
suchte Prive Friedjung in Czernowitz eine Pri¬
vatmittelschule und schloß sich der links-zioni¬
stischen Jugendbewegung Poale Zion an. Ver¬
folgt wegen kommunistischer Agitation, mußte
sie schließlich 1924 die Bukowina verlassen
und nach Wien flüchten.
Beim Erzählen ihrer Lebenssituation in der
Zwischenkriegszeit in Wien ist Prive Friedjung
in ihrer Wortwahl härter, als wenn sie über ihre
Kindheit spricht. Sie arbeitete mit zwei Schwe¬
stern für ihren Bruder als Näherin. Da nur sie
Kommunistin war, was sie sehr betont, und alle
anderen der sozialdemokratischen Partei ange¬
hörten, kam es zu heftigen Diskussionen. Sehr
offen spricht sie über ihre emotionale Befan¬
genheit in der jüdischen Tradition und ihren
Versuchen, sich davon zu lösen. Nur mit einer
kurzfristigen Scheinehe rettete sich Prive
Friedjung vorerst vor einer Abschiebung; 1934
arbeits- und obdachlos geworden, blieb ihr nur
noch die Ausreise nach Moskau.
Voller Widersprüche war diese Zeit in der So¬
wjetunion. Zum einen die unglaubliche Faszi¬
nation für die damalige Aufbruchstimmung,
war es doch die Realisierung erträumter Ideale,
zum anderen aber auch herbe Enttäuschung,
weil der Alltag kaum zu bewältigen war, gab es
doch weder Wohnungen noch Kleider oder ge¬
nug Lebensmittel. 1938 erfaßte die Terrorwelle
des Stalinismus die Familienmitglieder ihres
ungarischen Ehemannes. Am 7. Juli 1941 kam
ihr Sohn auf die Welt, drei Wochen später
mußten sie aus Moskau fliehen, da die Stadt von
Hitlers Truppen bedroht war. Prive Friedjung
beschreibt die Jahre im sibirischen Hinterland
als die gnadenlose Zeit: Lungenkrankheit des
Kindes, unqualifizierte Arbeit, Hunger und
Kälte. Mit einer gewissen Genugtuung erzählt
sie schließlich, daß sie 1947 doch noch ihr
Staatsexamen an der Pädagogischen Sprachfa¬
kultät in Tomsk abgelegt hat.
Die KPÖ initiierte die Repatriierung von Prive
Friedjung, und bereits im September 1947 ka¬
men sie und ihr Sohn nach Wien zurück. Nach
fast einjährigem Aufenthalt in einem Asyllager
bekam Prive Friedjung erstmals in ihrem Leben
eine eigene Wohnung. In den 50er Jahren arbei¬
tete sie bei der SMV (ab 1955 OMV) als Leite¬
rin der Sprachkurse — eine fiir sie gliickliche,
interessante Zeit. In ihrer Freizeit engagierte sie
sich fiir die Wiedener Bezirksorganisation der
KPO. Die Sowjetunion ist bis heute ihr geisti¬
ges Zentrum geblieben. Dieses Kapitel enthält
viele persönliche Reflexionen über Kommunis¬
mus und Stalinismus, Israel (besuchte ihre
Nichte dort) und Judentum, die Probleme der
Dritten Welt und ihre Passion für Musik.
Das Buch, erschienen in der Reihe Damit es
nicht verlorengeht..., zeigt einmal mehr, daß
Oral History ein nicht mehr wegzudenkendes
Instrumentarium der Geschichte geworden ist
und Vergangenes auf eine sehr individuelle und
lebendige Art zugänglich macht.
Veronika Schallhart
Prive Friedjung: ‚Wir wollten nur das Para¬
dies auf Erden“. Die Erinnerungen einer jüdi¬
schen Kommunistin aus der Bukowina. Wien,
Köln, Weimar: Böhlau Verlag 1995. 338 5.
Längst vergriffen ist, Verbrannt, verboten, ver¬
gessen. Kleines Lexikon deutschsprachiger
Schriftstellerinnen“, welches Renate Wall als
Pionierarbeit für die Erforschung der von Frau¬
en geschriebenen Exilliteratur zusammenge¬
stellt hatte. Überarbeitet und erweitert, versam¬
melt das Lexikon nunmehr 202 deutschsprachi¬
ge Schriftstellerinnen, darunter 64 Autorinnen
aus Österreich. Die große Mehrzahl konnte sich
ins Exil retten. Diese existentielle und kulturelle
Zäsur, die Auseinandersetzung mit dem Fa¬
schismus, findet sich in ihren Werken, aber
keineswegs im literarischen Kanon. Neben den
wenigen bekannteren Autorinnen wie Hilde
Spiel, Else Lasker-Schüler, Rose Ausländer,
Anna Seghers bietet das Lexikon eine Fundgru¬
be ,,vergessener Literatur“ und ein renitentes
Gedächtnis gegenüber der Tatsache, daß, über
den Nationalsozialismus hinaus, rigoros die
Präsenz von literarischen Werken von Frauen
unterbunden war, so daß es wie ein völliger
Neuanfang wirkte, als sich in den 60er und 70er
Jahren Autorinnen durchzusetzen begannen. In
manchen Gattungen, wie dem Drama und dem
Film, scheinen sich die Realisierungschancen
gegenüber den 20er und 30er Jahren eher ver¬
ringert zu haben.
Bibliographisch sind im Lexikon jene Werke
erfaßt, die im Kontext der Auseinandersetzung
mit dem Faschismus entstanden sind bzw. von
den Nationalsozialisten verboten wurden, so¬
wie Literatur — soweit eine solche überhaupt
existiert- zu Werk und Biographie. Bestechend
dabei, daß — ausgenommen Beiträge zu be¬
rühmteren Autorinnen — Entdeckungen in den
letzten Jahren auf die Frauen-Exilforschung zu¬
rückgehen.
(Nicht ganz verständlich ist allerdings, warum
der Sekundärliteratur mehr Raum und Über¬
sichtlichkeit gegeben wurde als den Werken
selbst.)
„Das Lexikon ist erst ein Anfang“, schreibt
Renate Wall in ihrem Vorwort. „Wie groß die
Zahl der ‘verbotenen’ Schriftstellerinnen ist,
läßt sich nicht absehen.‘“ Und so scheute sich
die Herausgeberin nicht, das Lexikon auch zum
Hinweisen auf noch Unerforschtes zu nützen.
Neben Gesichertem steht Lückenhäftes und
Widersprüchliches, stehen oft nur ein paar Da¬
ten einer verschollenen Autorin. Offen bleibt
die Frage, ob das Exil die Vorstellung von der
Zugehörigkeit zu ‘einer’ kulturellen Welt, zu
“einer” Sprache nicht sprengt. S.B.
Renate Wall: Lexikon deutschsprachiger
Schriftstellerinnen im Exil: 1933 bis 1945.
Freibur i. Br.: Kore 1995. 2 Bände, 271 und
269 S.
Eine Erstveröffentlichung von
Camill Hoffmann
Der „böhmische Jude, deutsche Dichter und
tschechoslowakische Diplomat“ (so der Her¬
ausgeber, offenbar ein Deutscher) Camill Hoff¬
mann ist heute meist nur mehr Kennern der
Biographie seines Freundes Franz Kafka be¬
kannt. Seine eigenen Erzählungen und impres¬
sionistischen Gedichte sind vergessen und wur¬
den erst von Dieter Sudhoff, dem Herausgeber
des vorliegenden Politischen Tagebuchs Hoff¬
manns, wiederentdeckt und neu ediert.
Hoffmann, 1878 in Kolin geboren, ging nach
seiner Gymnasialzeit in Prag 1902 nach Wien,
wo er als Feuilletonredakteur der Tageszeitung
„Die Zeit“ der Nachfolger Hermann Bahrs
wurde. Mit Max Mell, Viktor Fleischer, Felix
Braun gehörte er zum Kreis um Hugo von Hof¬
mannsthal. Mit Stefan Zweig gab er 1902 Ge¬
dichte von Charles Baudelaire heraus. Seit 1912
wurde Hoffmann Redakteur der ‚Dresdner
Neuesten Nachrichten“. Bekannt wurde er
außerdem als Herausgeber der Anthologien