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Heinz Rudolf Unger Der Vertrauensmann Schweres Keuchen, wie von müden Stieren. Die Treppen der Erinnerung bergan schleppt sich ein ewiger Vertrauensmann, der Genosse Rufeisen, er kommt kassieren. Drüsenkrank und fett zum Steinerweichen, häßlich wie zum Hohn und grau wie Asche trägt er seine alte Aktentasche, darin die Monatsmarken und die Maiabzeichen. Manche, die ihm freundlich taten — „Freundschaft“ sagten sie ihm ins Gesicht — waren bei jenen, er vergaß es nicht, die ihn aus dieser Stadt vertrieben hatten. Und mit seinen wohlbekannten Zügen, wie Judenhetze aus dem Naziblatt, durchackerte er diesen Teil der Stadt, schleppte sich keuchend über alle Stiegen. Roch in jedem Stockwerk, wer was kochte, bewegte sich, wie einer in Gefahr, und wußte stets, was in den Köpfen war, wenn er an irgendeine Türe pochte. Er war aus dem Exil zurückgekommen und fand, daß eine solche Barbarei für die Zukunft zu verhindern sei, und hatte einen Sprengel übernommen. Mein Gedächtnis hat viel tausend Türen und steile Stufen, eine wahre Qual, und da hinauf keucht monatlich einmal der Genosse Rufeisen. Er kommt kassieren. Vor Jahren (1992) besprach ich Heinz R. Ungers Gedichtband ‚Odysseus, an den Mastbaum geschnürt“ ziemlich wegwerfend. Der 1938 in Wien geborene Unger, dem breiteren Publikum bekannt durch seine Theaterstücke (u.a. ‚„Zwölfeläuten“), durch seine mit der Musikgruppe ‚‚Schmetterlinge“ erarbeitete ‚Proletenpassion“ und durch seine Kinderbiicher, hat auf diese Rezension ,,nobel“ (sic licet verbum) reagiert: Er schickte mir seinen Auswahlband ,,Wahl-Los. Lieder zur Lage“ (erschienen 1994 in der ,, Edition protokolle“ des Verlags Jugend & Volk, Wien). Und in diesem Band findet sich auch- neben vielen anderen sehr guten Gedichten - das wirklich großartige Gedicht ‚Der Vertrauensmann“. Mit diesem Gedicht veröffentlicht MdZ zugleich wieder einen Beitrag zur Diskussion über die Rückkehr von Exilierten nach Österreich. - K. Kaiser 8 und mit dem sprichwörtlichen österreichischen Charme. Bei all diesen Unterschieden zwischen den österreichischen und den russischen Volksvertretern gibt es aber auch Gemeinsames: Die einen wie die anderen mögen Wahlen, für die ihnen der Monat Dezember besonders geeignet erscheint. Da aber die russische Republik erst eine erste ist, die österreichische hingegen bereits eine zweite, könnte es durchaus geschehen, daß die österreichischen Volksvertreter unversehens das bei ihnen verbreitete ,,Entweder-und-oder-Prinzip“ (Robert Menasse) durch das russische ‚‚Weder-noch-Prinzip“ ersetzen, womit sie dann allerdings nicht mehr eine zweite, sondern bereits eine dritte Republik wären, aber damit der russischen noch immer um wenigstens eine voraus. VIII Eingriffe Das heutige Österreich ist, wie bekannt, nur ein Teil der einstigen, unwiederbringlich untergegangenen großen Donaumonarchie. Und das heutige Rußland ist, wie uns erst vor kurzem bekannt wurde, ein Teil der einstigen, ebenfalls unwiederbringlich untergegangenen Sowjetunion. Beide also sind abgebröckelte Teile eines ehemaligen großen Ganzen. Gleichwertig sind sie allerdings mitnichten, und von einer Gleichrangigkeit kann man auch nicht gerade reden, schon die Größenverhältnisse stehen dem entgegen. Diese Tatsache nun macht manche Leute in Österreich sehr traurig, um nicht zu sagen unglücklich und läßt sie gelegentlich an neuerliches Ausdehnen, Sich-Erstrecken oder Vergrößern denken. Nun ist das aber, wie zwei Weltkriege nachdrücklichst bewiesen haben, nach außen hin eine ziemlich komplizierte Angelegenheit, weshalb diese Leute als erklärte Demokraten im Innern des Landes nach einem Weg zu mehr Geräumigkeit, ja zu einer gewissen Unermeßlichkeit suchen. Als wahre Enthusiasten der Gigantomanie scheuen sie, wie einst gewisse Leute in der ehemaligen Sowjetunion, keine Mühe, wenn es darum geht, Riesen der Kultur, Kolosse der Industrie und Titanen der Medizin heranwachsen zu lassen. So kann denn zuweilen auch manches geschehen, was die Bürger des Landes und voran die Massenmedien ganze zweieinhalb Tagc in Atem hält und die nächsten anderthalb Tage nicht zur Ruhe kommen läßt. Da werden zum Beispiel in dem medizinischen Goliath „AKH“ (sprich Allgemeines Krankenhaus) einem munteren Sechziger, dem zahlreiche Verehrerinnen noch durchaus feurige, beglückende, ja geradezu zelotische Potenz bescheinigen, versehentlich und kurzerhand die für diese Fähigkeit unerläßlichen Männlichkeitssymbole entfernt, um es rundheraus zu sagen: die Hoden. . Eine nationale Tragödie von wahrhaft griechischen Ausmaßen, so wirkt die an die Öffentlichkeit dringende Mitteilung darüber. In Presse, Rundfunk und Fernsehen, in allen Magazinen und Illustrierten dreht sich plötzlich alles nur noch um die eine Meldung. Eine Flutwelle könnte Australien verschlingen, der Mond könnte vom Himmel fallen, nichts gliche dem die sonst so sonnige und daseinsfreudige Bevölkerung Österreichs bedrohenden Damoklesschwert aus dem Wiener „AKH“. Noch rüstige, kraftstrotzende Endvierziger kommen um ihre Frühpensionierung ein und sehen einem trostlosen und kummervollen Leben entgegen, ihre Zeit in den zahllosen Kaffeehäusern, Confisserien, Beiseln im Innern des Landes vergrämend. Und wer es sich leisten kann, begibt sich auf Weltreisen, um irgendwo fernab in der Welt, am besten in Mexico oder Thailand, abzuwarten bis ihnen Radio oder Fernsehen die ersehnte Entspannung der Lge melden. Im Gegensatz zum weitläufigen Rußland zwingt die größenmäßig bescheiden ausgestattete Alpenrepublik Österreich ihre armen Bürger förmlich dazu, derart rebellisch und ungewohnt revolutionär gegenüber den Angriffen auf ihr Zeugungspotential zu reagieren. Allerdings spielte im sowjetischen Rußland das bewußte Organ und somit auch seine Entfernung kaum eine nennenswerte Rolle, wie auch die Abtrennung des Kopfes oder die völlige Beseitigung ganzer Personen mit allen ihren Körperteilen kaum großes Aufsehen erregte, schon gar nicht in den Massenmedien. Da begann man erst nach der Austilgung von zwanzig Millionen Laut zu geben und reflektieren. Selbst dann aber wurde man nicht depremiert, depressiv oder ließ sich — Gott behüte! - frühzeitig pensionieren, sondern begann mit der als Allheilmittel angeschenen Perestroika, der Umgestaltung des verbliebenen Gesellschaftstorsos, um eine noch bessere, lichtere und kordialere Staatsgemeinschaft zu errichten. Betrachtet man nun diese beiden abgebröckelten Teile ehemaliger Imperien vergleichend, so muß man letztlich unweigerlich zu dem Schluß kommen, daß in dem kleinen und bescheidenen Restteil der Donaumonarchie Österreich die Menschen nie so glücklich sein können wie in dem großen Sowjetrudiment Rußland.