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schichtsschreibungwar.

Von Zeit zu Zeit unternahmen sie auch
einen kleinen Abendspaziergang durch
den großen Park, der stellenweise so dicht
von Bäumen bestanden war, daß man die
Villa von außen kaum sehen konnte. „Das
erinnert mich an England“, meinte sie,
während ihre Gedanken vermutlich in der
Vergangenheit schweiften, hielt aber inne,
weil ihnen plötzlich eine Ziege entgegen¬
kam. „Sie ist“, erklärte sie lächelnd, weil
sie sehr gut seine Überraschung verstand,
„sie ist das einzige Privileg, das ich mir
erlaube; aber wir sind zu dritt, um von ihrer
Milch zu profitieren.“

Eines Tages unterbrach der Besuch eines
Delegierten der Resistance die stille Abge¬
schiedenheit, der begleitet von Henriette
ankam, um den seltsamen Vogel zu besich¬
tigen, der da, auf dem Umweg über die
Bretagne, ins Haus geflattert war; sehr ver¬
ständlicherweise, denn er hätte ja auch ein
Agent der Wehrmacht sein können. Aber
in jenen Zeiten war man gewohnt, sehr
schnell, mit einer fast noch aus dem Tier¬
reich stammenden Witterung, die geistige
Herkunft des anderen zu spüren, und so
verlief die Begegnung zwischen den bei¬
den etwa gleichaltrigen Männern ganz pro¬
blemlos.

Inzwischen war der Herbst ins Land gezo¬
gen und die Rückkehr nach Paris stand
bevor. Als er mit bewegten Worten von ihr
Abschied nehmen wollte, erwiderte sie,
seinen Dank lächelnd abwehrend, ‚das
war meine Art, einen Beitrag für die Resi¬
stance gegen die Besatzung Frankreichs zu
leisten“.

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Abgeschirmt nach außen durch den großen
von hohen Eisenstäben gesäumten Park
hatte er in aller Ruhe seine Pläne für die
unmittelbare Zukunft schmieden können.
so kam er um vieles zuversichtlicher als
beim ersten Mal in Paris an. Seine Zuver¬
sicht war umso größer, als er das schwie¬
rigste und gefährlichste Unternehmen - die
Kofferaffare — schon vor seiner Absetzung
in die Parkeinsamkeit erledigt hatte. Es
wäre gefährlich gewesen, den kompromit¬
tierenden Koffer, der seine ehemalige Uni¬
form enthielt, mehrere Wochen im Ab¬
stellraum eines Kaffeehauses zu lassen.
Also hatte er ihn kurzentschlossen heraus¬
geholt, einen großen weißen Zettel mit ei¬
ner beliebigen Anschrift aufgeklebt, dar¬
unter mit Großbuchstaben ‚Bahnhofla¬
gernd“ geschrieben und war damit zu ei¬
nem jener privaten Versandbüros gewan¬
dert, die gegen eine zusätzliche Postgebühr

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die Beförderung übernahmen. Da ihn nur

nicht gab, blieb der Koffer vermutlich lan¬
ge Zeit im Bahnhofsdepot liegen.

Das allererste Ziel für jeden, der in einer
fremden Stadt ankommt, ein Dach über
dem Kopf, war nicht schwer zu erreichen.
Zwar kamen für ihn Hotels nicht in Frage,
da sie nur allzu oft und aus verschiedensten
Gründen von der Polizei kontrolliert wur¬
den, aber es fehlte nicht an Zeitungen mit
Annoncen von Zimmervermietern. Nach
einigem Stöbern wählte er eine Adresse im
oberen Drittel der Avenue du Maine, ca.
einen Kilometer vom Bahnhof Montpar¬
nasse entfernt, teils weil er dieses Stadt¬
viertel liebte, teils aus der psychologischen
Überlegung heraus, daß man hier (wo alle
Züge aus der Bretagne ankamen) sicher
nach ihm gesucht hatte und, da die Suche
vergeblich geblieben war, man kaum zwei
Monate später hier neuerlich nach ihm su¬
chen würde.

Der nächste Schritt auf seinem Programm
war zwar nicht ganz ungefährlich, aber
unvermeidlich: die Bewerbung um Le¬
bensmittelkarten, ohne die man zu diesen
Zeiten nichts zu essen bekam. Hier mußte
sich also zum ersten Mal seine neue Carte
d’Identit& bewähren. Aber alles ging ganz
glatt vor sich und so war er im Handum¬
drehen ein regulärer Bewohner der franzö¬
sischen Hauptstadt geworden. Damit war
der rein administrative Teil erledigt, nun
galt es den Alltag zu organisieren. Schon
in der Abgeschiedenheit des großen Parks
hatte er mit dem Gedanken kokettiert, sei¬
ne Studien fortzusetzen. In Wien hatte er
Geschichte, politische Geschichte studiert.
Nichts lag also näher, als dieses zentrale
Kapitel durch das Studium der Wirt¬
schaftspolitik zu ergänzen. Schon in den
ersten Tagen seines Pariser Aufenthalts
hatte er als eine Art von Dépendance der
Universitätsbibliothek die Bibliotheque
Ste. Genevieve, zwischen Pantheon und
Sorbonne ausfindig gemacht, und die wur¬
de von nun an sein, wenn nicht täglicher,
so doch regelmäßiger Arbeitsplatz. Das
Suchen in den Katalogen, das Notieren der
Autoren und Titel, das neugierige Warten
auf die Bücher, die bestellten Bücher, die
man ihm auf den vorgesehenen Platz
brachte, all diese vertrauten Gewohnheiten
von einst fand er voll innerem Vergnügen
wieder, bevor er sich in die Lektüre einer
für ihn neuen Materie versenkte. Und als
zusätzliche Prämie sozusagen steckte er
die ihm ausgehändigte Leserkarte in seine
Brieftasche — eine weitere Legitimation
seiner neuen Identität. Mittags nahm er in
einem kleinen Restaurant der Rue Mon¬

sieur le Prince, nur wenige 100 Meter
von der Bibliothek entfernt, für sehr we¬
nig Geld eine sehr karge Mahlzeit ein.
Aber diese Art von Askese teilte er mit
zahllosen Parisern und konnte nach dem
bretonischen Schlaraffenleben seiner
Gesundheit keinen Abbruch tun. Sehr zu¬
träglich für seine Gesundheit war jeden¬
falls der kleine Fußmarsch von etwa ei¬
ner dreiviertel Stunde, den er zurückle¬
gen mußte, um zur Bibliothek zu kom¬
men. Die Untergrundbahn ließ er wegen
allfälliger Polizeikontrollen lieber links
liegen und außerdem lernte er so auf an¬
genehmste Weise Paris kennen: die stets
lebendige Rue de la Gaiet£, ein Stück des
Allee-gesäumten Boulevard Raspail mit
seiner Balzac-Statue von Rodin und
schließlich den Jardin du Luxembourg,
den er zur Gänze durchquerte, um zum
Boulevard St. Michel zu gelangen und
damit in unmittelbare Nähe seines Ziels.
Manchmal endete sein Spaziergang
durch den herbstlich verfärbten Luxem¬
bourg nicht bei den Büchern des Lese¬
saals, sondern bei dem nur wenige 100
Meter von ihm entfernten Musée Cluny
und seinen zauberhaft schönen Wandtep¬
pichen mit der „Dame ä la Licorne“.
Oder er schlenderte, statt ihn zu überque¬
ren, den ,,Boul’ Mich“ bis zum Quai
hinunter, um bei den Bouquinisten her¬
umzustöbern, die dort ihre verschollenen
oder vergriffenen, jedenfalls aber ver¬
gilbten Schätze aus der Welt Gutenbergs
in ihren an der Kaimauer in Augenhöhe
befestigten Kästen zur Schau stellten.
Oder wenn ihn das Bedürfnis nach einem
festlichen Versinken in die Welt einer
fernen Vergangenheit ergriff, überquerte
er die Seine, um, wieder nur wenige 100
Meter weiter, die Ste. Chapelle aufzusu¬
chen. Nirgendwo auf der Welt könnte
man dem dämmernden Farbglanz spät¬
gotischer Glasmalerei näher kommen,
als in diesem engen, mäßig hohen Kir¬
chenraum, der fast vergessen ließ, daß
zum Bauen auch Stein und Mauerwerk
benötigt wird.

So waren die ersten drei Oktoberwochen
des Jahres 1943 wie im Flug vergangen.
Eingewiegt vom vertrauten Zusammen¬
klang schöpferischen Ausdrucks aus den
verschiedensten Lebensbereichen vergaß
er nicht nur Zeit und Raum, sondern auch
die Besonderheit seiner exponierten Exi¬
stenz. Mit anderen Worten, er wurde
leichtsinnig, ließ sich zu unbedachten Ent¬
schlüssen hinreißen: Als die Pariser Oper
ausgerechnet an seinem Geburtstag Mo¬
zarts ,,Figaro“ ansetzte, zogerte er nicht
einen Augenblick. Der Anblick, der sich