nicht geben. Er rief die Sekretärin herein
und befahl ihr, im Ausgangsbuch nach
dem Datum zu forschen, wann das Manu¬
skript aufgegeben worden sei.
Im Buch steht keine Notiz darüber, sagte
das Tippfräulein unsicher. Dr. Vogel
wurde wütend. Dann müsse es noch da
sein, meinte er unwirsch und stöberte
flüchtig in seinem Schreibtischschubla¬
den und wühlte im Kasten danach. Ich
habe es herinnen aufbewahrt gehabt,
brummte er nervös und niemand hat ei¬
nen Schlüssel dazu und es war auch nie¬
mand da, dem ich es gezeigt hätte. Nach
einer Weile fällt ihm ein, daß der Tierarzt
aus Niederreith einmal hier war, weil
sein Hund eine böse Pfote hatte. Mit Dr.
Hengstberger hat er über Herbst gespro¬
chen, auch über die Chronik, für die sich
Hengstberger sehr interessierte. Er kann
sie doch nicht aus Versehen eingesteckt
haben, ohne mich vorher darum zu bit¬
ten. Er werde sich gleich bei ihm erkun¬
digen. Natürlich wußte Dr. Hengstberger
nichts davon und das Telefonat brachte
keinen Hinweis. Aber es fiel mir auf, wie
vorsichtig der Notar ihn befragte und daß
der Tierarzt alle Fragen des Notars ver¬
neinte. Ob die beiden nicht gemeinsame
Sachen machten? Aber warum nur. Und
ich habe gedacht, wenn ich es einem No¬
tar überantworte, kann gar nichts passie¬
ren.
Lucie fängt hysterisch zu weinen an. Wenn
es nun verbrannt ist, wer weiß was Hengst¬
berger damit gemacht hat? Ich bin ja dem
Professor verpflichtet, schluchzt sie.
Laß es gut sein, Lucie und wein nicht mehr.
Alles, was einmal aufgeschrieben ist, ist in
der Welt. Aber du hast den Text ja noch im
Computer gespeichert, oder hast du ihn
bereits gelöscht?
No siehst du, sage ich, nachdem sie eifrig
verneint. Laß den Text einfach noch ein¬
mal ausdrucken und wir werden einen an¬
deren Verleger finden. Ich werde mich in
der Stadt darum kümmern. Ich weiß sogar
schon zu wem ich gehen werde. Dr.
Schwarzer hat in seinem Verlagshaus vor
wenigen Monaten ein Buch herausge¬
bracht mit dem Titel: ‚‚ Antisemitismus im
Waldviertel“. Der bringt die Chronik be¬
stimmt heraus, da bin ich ganz sicher.
In ihrem schönen himbeerfarbenen Ko¬
stüm fährt mich Lucie an die Bahn, hilft
mir beim Einsteigen, gibt meinen Koffer in
das Gepäcknetz und küßt mich zum Ab¬
schied.
Ich habe dir soviel zu danken, Gini, wirk¬
lich, ich danke dir für alles und du mußt
Taufpatin bei meinem Kind sein.
Der Zug beginnt zu rollen, ich lehne mich
in die Fensterecke des Coupés II. Klasse
schließe die Augen und lasse die vergan¬
genen Tage an mir voriiber ziehen. Als ich
sie wieder öffne, merke ich erst, daß ich
alleine im Abteil bin. Die alte Dame geht
mir ab, die beim Herfahren mir gegenüber
saß, ihr Reden und die Begeisterung für das
Waldviertel.
Valerie Lorenz Szabo, 1944
Valerie Lorenz Szabo und ,,Das
Leben auf dem Lande“
Valerie Lorenz Szabo starb am 6.12. 1996
in Wien.
Der letzten von einer langen Reihe von
Erzählungen gab sie den Titel „‚Eine Chro¬
nik. Warum nicht Moosbrunn!“ Es soll
hier der Versuch gewagt werden, diese Er¬
zählung als Traumbild des hinter ihr lie¬
genden Lebens zu analysieren. Wunscher¬
füllende Phantasien - ‚Glück ist die Erfül¬
lung eines Kinderwunsches“ (S. Freud) —
und Realitätsbewußtsein schaffen die
Spannungen, die sich in starken Ambiva¬
lenzen äußern. Die durch diese Art Traum¬
arbeit entstandene Geschichte bezieht ihr
Material aus dem Leben der Autorin.
Es treten mehrere Motive zu Tage.
„Das Leben auf dem Lande“. Valerie Lo¬
renz Szabo beschwört einerseits das Wald¬
viertel als Idylle. Es war der Ort ihrer Kind¬
heit, an den sich Erwartungen geknüpft
haben, die aber nie eingelöst wurden. So
wird das Waldviertel gleichzeitig zum Ort
des Unheimlichen im Sinne des nicht mehr
Heimeligen.
Es folgt das “Liebesmotiv“: Wir sehen
hier eine typische Doppelung: Dr. Herbst
zerfällt in zwei Personen, nämlich in den
älteren Professor (sein Name mag Symbol¬
charakter haben), der sicher auch einen
Bezug auf Valeries eigenen, wesentlich äl¬
teren Gatten hat, und in den jungen Ulrich
Herbst, der die Rolle des Liebhabers und
die Rolle des Vaters des erwarteten Kindes
übernimmt. Der Tod von Prof. Herbst, der
eigentlich die Geschichte einleitet, deutet
schon auf die Vergeblichkeit des Wun¬
sches nach Liebe hin. Dem entspricht auch
das Element, daß der junge Dr.Herbst nicht
wirklich präsent ist. Es drückt sich hier die
Vergeblichkeit des Liebeswunsches aus,
vielleicht auch ein Reflex auf die ödipale
Situation.
„Das Motiv des Kindes“, wird hier ver¬
doppelt durch die quasi Mutterrolle, die die
Erzählerin der Hauptperson gegenüber
eingenommen zu haben sich erinnert:
„Zwar bin ich nur zehn Jahre älter als sie,
so ist sie doch fast mein Kind.“ Die andere
Kindersituation driickt der Wunsch aus,
das Kind völlig allein aufzuziehen. Hier
zeigt sich die Vorstellung, daß die Liebe zu
einem Gatten und die Mutterrolle eigent¬
lich unvereinbar sind.
Ihr eigener Gatte hatte ihr gegenüber so¬
wohl die Rolle eines Vaters als auch eines
Kindes eingenommen und ihr folgerichtig
ein eigenes Kind verwehrt.
„Die Dorfgemeinschaft“ als letztes Mo¬
tiv zeigt eine starke Ambivalenz: Sie zer¬
fällt in positiv erlebte Personen, wie die
beiden Herbst und die Gräfin, und den
negativen Rest, die in einer bedrohlichen
Verschwörung erlebt wird. Die Zukunft,
die die junge Frau samt ihrem Kind in
dem Ort zu erwarten hat, läßt auf einen
ständigen Kampf gegen die feindselige
Gemeinschaft schließen. Hier scheinen
die Erlebnisse während der Nazi-Zeit die
Folie abzugeben. Rettung scheint einzig
die wunscherfüllende Phantasie zu sein,
daß die Heldin der Geschichte als Be¬
treuerin des Nachlasses einen institutio¬
nellen Rahmen für ihr Verbleiben im
Dorf erhält.
Es wäre wünschenswert wenn dieser Ver¬
such einer Tiefenanalyse an Hand von wei¬
teren Erzählungen von Valerie Lorenz
Szabo verifiziert werden könnte.
Insbesondere gilt das, dassich in den Texten
von Valerie Lorenz Szabo in seltener Prä¬
gnanz die psychische Bedrängnis von
Frauen in der männerdominierten Welt ih¬
rer Zeit wiederfindet.
Gitti Wimmer