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Dora Müller Auf Grund eines 1991 zwischen der damals noch bestehenden tschechoslowakischen föderalen Republik und der Bundesrepublik Deutschland abgeschlossenen Vertrages wurden in den böhmischen Ländern, also in Böhmen, Mähren und Schlesien, sogenannte Begegnungszentren eingerichtet. Sie werden vom bundesdeutschen Innenministerium finanziert und sollen der kulturellen Entfaltung der heimatverbliebenen Deutschen sowie Begegnungen dienen. Und zwar sowohl mit tschechischen Mitbürgern, als auch mit Landsleuten, die im Zuge der dramatischen politischen Ereignisse der Jahre 1938, 1939 und 1945, aus politischen, rassischen und nationalen Gründen, flüchtend oder im Zuge der Vertreibung, das Land ihrer Väter verlassen mußten und nun nach Jahren ihre alte Heimat besuchen. Deutsche, Tschechen und Juden lebten hier durch viele Jahrhunderte nebeneinander und miteinander. Einmal besser, einmal schlechter miteinander auskommend. Vielfach einander befruchtend, schufen sie eine hochentwickelte Kultur. So war es in Prag, in vielen anderen Städten und auch in Brünn. Bis 1939 wohnten in der Stadt neben etwa 200.000 Tschechen an die 55.000 Deutsche, darunter 10.000 Juden, die sich vorwiegend zur deutschen Nationalität bekannten und große Verdienste um die Entfaltung der deutschen Kultur, namentlich auch des deutschen Theaters, erwarben. Damit war es spätestens im Jahre 1939 vorbei. Dem Holocaust fiel die jüdische Bevölkerung nahezu vollkommen zum Opfer. Nach 1945 verschwanden über Nacht die Deutschen aus dem Stadtbild. Nach der letzten Volkszählung bekennen sich nur mehr 457 Bürger in Brünn zur deutschen Nationalität. Wenngleich die Dunkelziffer höher liegen mag, ist die Zahl der Deutschen in der Stadt verschwindend klein. Viele haben immer noch Angst, auch jetzt, nach mehr als einem halben Jahrhundert, sich zu ihrer tatsächlichen Nationalität zu bekennen. Das Fehlen deutscher Schulen hat zur Folge, daß die Jüngeren, und das sind die heute schon über Fünfzigjährigen, kaum mehr ihre angestammte Muttersprache beherrschen. Geschweige denn über die von ihren Vätern geschaffenen Kulturgüter Bescheid wissen. Jene kulturellen Werte vor dem vollkommenen Vergessen zu bewahren, ist eine der Aufgaben, die sich das Brünner Begegnungs28 zentrum stellt. In diesem Zusammenhang erging eine Einladung an den in Hamburg lebenden Schriftsteller und Journalisten Jürgen Serke, im Brünner Zentrum einen Vortrag zu halten. Der 1938 in Landsberg/Warthe geborene Serke ist ein guter Kenner böhmischer Verhältnisse. In den Jahren 1967/68 war er als Reporter in Prag tätig. Unter seinen Buchveröffentlichungen sind u.a. „Strafverteidiger in Deutschland“, ,,Die verbrannten Dichter“, „Das neue Exil — die verbannten Dichter, Berichte und Bilder von einer neuen Vertreibung“ und ,,Bohmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft“ zu nennen. Das letztgenannte Werk stand im Mittelpunkt von Serkes Vortrag. Was Böhmen für die deutsche Literatur dieses Jahrhunderts bedeutete, sagen schnell ein paar Namen: Rilke, Kafka, Werfel, Brod, Kisch. Aber Serke kommt auf zusätzliche 47 deutsche Dichter aus Böhmen, deren Rang nicht minder groß ist. Doch diese Autoren sind mit ihren Werken untergegangen. Chamberlain machte die Zerstörung möglich. Hitler besorgte sie, Stalin vollendete sie ... und Serke bemüht sich, sie in Wort und Bild in seinem PortraitBuch wiederzuentdecken. Besonderes Augenmerk widmete Serkes Vortrag dem aus der mährischen Slowakei stammenden Lyriker Hugo Sonnenschein. Dieser wurde als Sohn eines armen jüdischen Bauern in Gaya (Kyjov) unweit von Brünn 1889 geboren. Als Dichter nannte er sich Sonka, und wurde in den zwanziger Jahren durch seine Vagabundenlyrik bekannt (Die Legende vom weltverkommenen Sonka; Erde auf Erden; Geuse einsam von unterwegs; Der Bruder Sonka und die allgemeine Sache; Cesta k svobode/Der Weg zur Freiheit; Meine slowakische Fibel; u.a.) Er war Mitbegründer der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, bekämpfte jedoch schon früh den Stalinismus, wurde 1927 aus der Partei ausgeschlossen und stand mit Trotzki in Verbindung. Lebte als tschechoslowakischer Staatsbürger in Wien, war Geschäftsführer des ,,Schutzverbandes deutscher Schriftsteller in Österreich“ und wurde 1934 in die CSR abgeschoben. Im Februar 1939 wandte er sich, unter Angabe der biographischen Daten auch seiner (zweiten) Frau Rosa und der beiden Söhne aus dieser Ehe, an den in Mexiko lebenden Trotzki um Hilfe bei seiner Ausreise. Antwort kam keine mehr. Drei Wochen später marschierten deutsche Truppen in Prag ein. 1940 wurde Trotzki auf Stalins Geheiß ermordet. Sonnenschein gelang es noch, beide Söhne mit einem Kindertransport nach England zu schicken. Die Eheleute wurden nach Auschwitz deportiert. Rosa kam um. Er überlebte und wurde von den Sowjets nach der Befreiung von Auschwitz nach Moskau gebracht. Mit einer tschechischen Regierungsdelegation, die bei Stalin war, kehrte er im Sonderzug nach Prag zurück. Dort wurde er verhaftet und wegen angeblicher Kollaboration mit den Deutschen zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Der Prozeß fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Entlastungszeugen waren nicht zugelassen. Am 20. Juli 1953 starb Sonka im Zuchthaus in Mirov (Mürau). Es handelte sich allem Anschein nach um keinen Justizirrtum, sondern um eine kommunistische „Notwendigkeit“. Initiator war der kommunistische Innenminister Nosek, dessen Polizei das Beweismaterial gegen Sonnenschein lieferte. Die während des „‚Prager Frühlings“ zutage gekommenen Dokumente zeigten, wie die KP unbequeme Männer des Widerstandes mit gefälschten Dokumenten zu Kollaborateuren stempelte. Sonka war offensichtlich ein unliebsamer Mitwisser, daß der Journalist Julius Fucik, eine ,,Heldengestalt“ des kommunistischen Widerstandes, ein Verräter und daß das Dokument seines Widerstandes eine Fälschung waren.