Hendlschlachten mich auch daran erinnert — und das ist
nicht im Film —, daß mein Vater nie Hendl gegessen hat,
weil er als Kind, er ist auf einem Bauernhof bei Czernowitz
aufgewachsen, gesehen hat, wie seine Mutter die Hendl
geschlachtet hat.
Reiter: Ich habe gedacht, Ihr Vater sei in einer jüdischen
Gemeinde aufgewachsen.
Beckermann: Ja, schon, aber die waren nicht koscher.
Mich hat das wieder erinnert an den Bauernhof, auf dem
ich in den Ferien als Kind war.
Reiter: Das war also die visuelle Verbindung, die Sie
zurückführte. Was noch zur Zugehörigkeit gehört, ist Ihr
Verhältnis zu Israel, mit dem Sie sich in Ihrem Film ,,Nach
Jerusalem“ auseinandersetzen. Meines Erachtens ist dieser
Film ganz anders als die vorhergehenden, obwohl er wie
„Die papierene Brücke“ als „Filmessay“ bezeichnet wird.
Ich finde, daß Sie sich in dem Film viel mehr zurückziehen.
An zentraler Stelle wird der Strand von Tel Aviv gezeigt
und aus dem Off fragt eine Stimme, was sich die europäi¬
schen Juden unter Israel vorgestellt hätten.
Beckermann: Ja: ‚Wovon hat man geträumt?“
Reiter: Das ist aber auch die einzige Stelle, an der Sie mit
Ihrem eigenen ‘Forschungsinteresse’ aufscheinen.
Beckermann: Ja, weil es die einzige Kommentarstelle ist.
Reiter: Sie lassen nur die Impressionen, nur die Bilder
wirken. Ihre Präsenz liegt in der Auswahl...
Beckermann: Ja eben, man darf sich nicht so an den Text
klammern. Ich hatte mit Israel viel zu tun, da meine Mutter
dort in der Emigration war und ich als Kind die Sommer
dort verbrachte. Zuerst hatte ich eine sehr emotional gepräg¬
te Beziehung zu diesem Land, die als Kind natürlich eine
sehr schöne war und später eine sehr kritische, in den 70er
und 80er Jahren. Dann wollte ich mir dieses Land einmal
anschauen, wie es wirklich ist; eben das Gegenteil der
Träume und der Ideologien suchen. Was ist jetzt daraus
geworden? Was ist materiell da und zu sehen? Ich hätte
natürlich einen Film machen können, wo ich eine andere
Strecke wähle, d.h. zu bestimmten Leuten hinfahre usw. Ich
habe eben das Konzept dieser Straße gewählt, um auch
mich selber einzuschränken und das zu sehen, was wirklich
auf diesem Weg passiert; und nicht den Weg zu wählen von
einer Person zur anderen. [...] Wir haben dort vier oder fünf
Wochen gedreht, von März bis Mai, und am Anfang war
immer traumhaftes Wetter, und ganz am Schluß, als wir in
Jerusalem gedreht haben, hat’s geregnet. Es war so eine
verkehrte Welt.
Reiter: Symptomatisch für den Film ist der Schluß: Bei der
Autofahrt im Regen hört man zwei Stimmen, eine offen¬
sichtlich jüdische, die von Jerusalem bei Schnee zu Pessach
schwärmt, und eine Moslem-Stimme, die vom Regen im
Ramadan spricht. Symptomatisch erscheint mir das deswe¬
gen, weil ich den Film für relativ unparteiisch halte. Sie
haben versucht, beide Seiten zu zeigen.
Beckermann: Das war eben der Sinn der Sache, daß ich
mir nicht im vorhinein überlegte, daß fünf israelische Ara¬
ber vorkommen und fünf Palästinenser und fünf Juden oder
so, sondern daß ich das eben dem Schicksal oder dem Zufall
überlassen habe. Aber das Interessante war, daß dieser Film
unglaubliche Emotionen ausgelöst hat. Die einen haben
gesagt, der ist total zionistisch, und die anderen haben
gesagt, der ist ganz antizionistisch. Der Film ist eine unge¬
heure Projektionsfläche für die eigenen Phantasien. Ich
fand auch, daß der Film nicht ‚‚parteiisch“ ist.
Reiter: Beim Jerusalem-Film 8 Wen wollten Sie anspre¬
chen: Die überhaupt nichts wissen von Israel oder eher
diejenigen, die durchs Fernsehen ein wenig Bescheid wis¬
sen, z.B. von der Intifada...
Beckermann: Natürlich sieht man im Fernsehen immer
nur die gleichen Bilder und eigentlich nichts von dem Land.
antisemitischer Ressentiments. Wie im Fall von Alfred Hrdlickas Holocaust¬
Denkmal auf dem Albertina-Platz, das einen knieenden, straßenwaschenden
Juden zeigt, geriet das öffentliche Gedenken leicht zur Demütigung derjenigen,
derer gedacht werden sollte. Am Rande sei hier vermerkt, daß Ruth Beckermann
ihre Kritik an diesem Denkmal bereits zu einem Zeitpunkt äußerte, als bei Politik
und Kunstkritik noch eitel Wonne darüber herrschte. Das Verhalten des Künst¬
lers in der sogenannten „Hrdlicka-Affäre“ (1996), ausgelöst durch Hrdlickas
offenen Brief an Wolf Biermann, in dem er diesem als Reaktion auf die Kritik
des Liedermachers an der aus der SED hervorgegangenen PDS und ihrem
Vorsitzenden Gregor Gysi die „Nürnberger Rassengesetze an den Hals“
wünschte, hat zwar mit Beckermanns Kritik am Kunstwerk unnmittelbar nichts
zu tun, zeugte aber von demselben Mangel an Sensibilität des Künstlers, der
sich auch in der Ästhetik seiner Skulptur niederschlug.”
Nicht nur die historische Situation der Juden in Österreich (Spiel 1994) war
bekanntlich anders als die in Deutschland. Während die nationalsozialistische
Vergangenheit die Verfassung und Politik der jungen Bundesrepublik Deutsch¬
land weitgehend prägte, die Schuld am Massenmord an den Juden einbekannt
wurde und die Regierung eine bewußte Abgrenzung zur Vergangenheit vorgab,
geschah in Österreich nichts dergleichen. Die Zweiten Republik präsentierte
Österreich überzeugend als erstes Opfer Hitlers, das als solches weder seine
demokratische Gläubwürdigkeit unter Beweis zu stellen hatte, noch für die
Wiedergutmachung der Verbrechen an den Juden verantwortlich zu machen
war. Dazu paßt, daß die Rückkehr der Emigranten (Matejka 1984) bzw. die
Rückerstattung „arisierten“ Vermögens (Knight 1988) verzögert wurden.
Das offizielle Judentum in Österreich reagierte auf diese Situation damit, daß
es sich ein low profile verordnete. Stillhalten statt Einmischen war bis in die
Jüngste Vergangenheit weitgehend die Parole (Embacher 1995), für die nicht
zuletzt die Person Hans Weigels steht. Vor allem aber verhinderte die Zersplit¬
terung innerhalb der Jüdischen Gemeinde aufgrund gegensätzlicher (auch poli¬
tischer) Interessen eine wirksame Vertretung jüdischer Anliegen im Nach¬
kriegsösterreich. Schon bevor der Waldheim-Wahlkampf den Antisemitismus
in Österreich wieder an die Oberfläche spülte, entwickelten Ruth Beckermann
und ihre Generation unter dem Eindruck des zunehmenden Antizionismus in
der Linken eine Identität, die sich von der vorangehenden absetzt: Selbstbewußt
nahmen sie ihr Anderssein nicht nur an, sondern faßten es nunmehr positiv,
produktiv: „Der Zerfall der Linken und unser spezielles Zerwürfnis mit ihr
brachte uns endlich in die Nähe von uns selbst.“ (Beckermann 1989, S. 126)
Ruth Beckermanns Weg von der Identifikation mit den „Anderen“ über den
Zionismus, vom Aufgehen in der linken Ideologie zur (Neu-)Entdeckung des
Judentums läßt sich auch als einer von mehreren Phasen unterschiedlich emp¬
fundener Zugehörigkeit interpretieren. Als bewußte Jüdin und Frau führt sie
heute ein Leben als Intellektuelle, die zwar, was das Geistige anbelangt, Öster¬
reich als ihre Heimat anerkennt, Zugehörigkeit aber nicht geographisch auffaßt.
Geprägt von der österreichischen Kultur, insbesonders der Literatur der Jahr¬
hundertwende, verbringt sie einen Teil des Jahres in Paris und macht nach wie
vor viele Reisen. Daß diese allerdings auch mit ihrem Verhältnis zu Österreich,
d.h. zu Wien, zu tun haben, verrät die Bemerkung, daß sie sich im Ausland nicht
„mit den Nuancen der Gemeinheit hier [d.i. in Wien], die man genau spürt, weil
man sie ja genau kennt, auseinandersetzen“ miisse. ,,In Frankreich gibt es genug
Antisemitismus, aber der fallt mir nicht so auf. Ich verbinde damit nichts.
Während natürlich hier jede Kleinigkeit ein ganzes Assoziationsfeld eröffnet.“ ?
Ralph Giordanos Zugehörigkeitsgefühl, das er durch die positive Resonanz
auf seine Bücher, insbesondere Die Bertinis, in Deutschland bestätigt glaubt
(1992: 108£f, 119ff), empfindet Beckermann jedenfalls nicht. Aber auch Lea
Fleischmanns kategorisches Dies ist nicht mein Land scheint sie nicht unter¬
schreiben zu wollen. Dennoch hängt sie an dem Land ihrer Kindheit in ähnlicher
Weise wie dieser. Ihr Zugehörigkeitsgefühl scheint, zumindest ursprünglich,
eher dem Wolfgang Hildesheimers vergleichbar zu sein, der sich an seine
Verbundenheit mit dem Volk der Juden immer dann erinnert fühlte, wenn er
einen traf (Schultz 1986, S. 225). Dies wurde ihr anläßlich ihrer Filmreise nach
Osteuropa bewußt: Als „‚Heimatsuche auf jüdisch“ kommentiert sie in Die
papierene Brücke ironisch ihre Emotionen anläßlich des koscheren Schächtens