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um eine in die Gegenrichtung, und Nach Jerusalem stellt die Reise nach Israel
dar. Die Vorliebe für den Reisebericht ist kein Zufall; auch der Essay stellt als
Form gewissermaßen eine Reise in unbekannte Sphären des Wissens und des
Bewußtseins dar.

Nicht zufällig wurde Jean Amery mit seinen autobiographischen Essays
bekannt. Mit seinem ersten, ‚‚An den Grenzen des Geistes“ (1964), machte er
sich diese Form zur Lebensform, die der zunehmenden Vorläufigkeit seiner
Existenz entsprach.” Könnte man die These wagen, daß der Essay ein dem durch
den Holocaust geprägten jüdischen Schicksal angemessenes Genre ist, ange¬
messener jedenfalls als die mit Adornos bekanntem Verdikt belegten Gedichte?
Was die zweite Generation betrifft, scheint einiges dafür zu sprechen. Während
Reinhard Baumgart das ‚„Stilgesetz des Interessanten“ (1957, S. 599) für die
Popularität des Essays nach 1945 verantwortlich macht, liegt die Aktualität
dieser Form für die Generation nach Améry in seiner Verquickung des Persön¬
lich-Erlebnishaften mit dem allgemein Gültigen, des Ephemeren mit dem Blei¬
benden. Es ist die ‚Struktur der Erinnerung“, die sich im ‚methodisch unme¬
thodischen“ Verfahren niederschlägt, wie Adorno das treffend bezeichnete
(1981, S. 21), die dem Anliegen dieser AutorInnen entgegenkommt. Der Essay
könnte damit als Prototyp des sogenannten ,,konzentrischen Schreibens“ ange¬
sehen werden, das der amerikanische Germanist Thomas Nolden jüngst in
seinem gleichnamigen Buch als Charakteristikum der ‚Jungen jüdischen Lite¬
ratur“ bezeichnete. Wie im Essay ist der Ansatzpunkt des konzentrischen
Schreibens die Gegenwart, „die ohne Bezug auf die Shoah freilich nicht zu
denken ist und auf die das Schreiben deshalb unwillkürlich bezogen ist“ (1995,
S. 63f). Den Kindern der Holocaust-Überlebenden erlaubt die abwägend-offene
Form des Essays, Positionen im Schreiben zu klären. Es ist eine die Kritikfähig¬
keit fördernde Skepsis und steht im Gegensatz zu der ‚‚Standortlosigkeit“ , die
Baumgart dem Essay in den fünfziger Jahren fälschlich attestierte (1957, S.
599). Die Freiheit vom System, die sich in der assoziativen Denkbewegung der
Essays genauso spiegelt, wie im Perspektivenwechsel und in der subjektiven
Argumentation, eignet sich zur Identitätssuche von Beckermanns Generation.
In gewissem Sinne könnte man bei dieser Literatur auch von Therapie sprechen
(Muschg 1981): Die Kinder der Überlebenden bedienen sich des Essays als
literarischer Form, um mit dem fertig zu werden, was ihre Eltern erlebten, ohne
daß sie sich, wie etwa im Erlebnisbericht, gänzlich entblößten. Stellvertretend
für viele meint Beckermann daher: ,,... ich habe in acht Jahren drei Filme
gemacht und zwei Bücher und habe mich darin mit diesem Thema beschäftigt
und bin durch sämtliche Depressionen gegangen, die dazugehören. Jetzt ist es
für mich anders. Irgendwann hat man etwas für sich verarbeitet, und es kann
mich jetzt nicht mehr so leicht erschüttern, was damit zu tun hat.“ (Anm. 3)

Symptomatisch ist in dieser Hinsicht die Reihenfolge von Beckermanns
Werken, die das graduelle Anwachsen ihres jüdischen Selbstbewußtseins spie¬
gelt. Ursprünglich ging es ihr darum, sich ihrer Wurzeln zu vergewissern. Die
zumindest in Film und Erzählung wieder erstandene Leopoldstadt in Wien
retour (1983) lieferte das Bildmaterial für Die Mazzesinsel (1984). Die papie¬
rene Brücke (1987) stellte den Übergang von der Sichtung des Verlorenen zur
Auflehnung gegen das Bestehende dar. Der Film zeigt den Vater Beckermanns,
wie er bei der Anti-Waldheim-Demonstration in Wien angepöbelt wird. Mikro¬
phon und Kamera halfen der Regisseurin, ihre Sprachlosigkeit zu kompensieren:
„Die Videokamera war dort für mich wie eine Waffe, die einzige Möglichkeit,
mich zu wehren.“ (Bretschneider 1988, S. 37) Unzugehörig (1989) bringt
schließlich die Standortbestimmung der im Nachkriegsösterreich geborenen
Jüdin. Unzugehörig ist nicht nur, aber auch eine Abrechnung: Die Sprache ist
nunmehr selbst zur Waffe geworden, die im Film noch weitgehend fehlte; die
Anklage z.B. gegen Alfred Hrdlickas Skulptur ersetzt die Bilder der Sprachlo¬
sigkeit derjenigen, die alles verloren hat (z.B. Die Mazzesinsel). Die Auseinan¬
dersetzung mit dem Land, aus dem die Eltern und Großeltern vertrieben worden
waren und das dennoch für die jungen Juden zu einer Art Heimat geworden ist,
erfolgt nicht von ungefähr Ende der achtziger Jahre: Die Ereignisse in den
vorhergehenden Jahren (Walheim-Wahlkampf 1986 und Bedenkjahr 1988)
haben nicht nur die jüdische Bevölkerung in einen ‚kollektiven Schock“
versetzt (Beckermann 1989: 106), sondern haben auch die aufgeklärte nicht-jü¬

als Frau diesen Komplex, daß eine solche Problematisie¬
rung als etwas Weibliches betrachtet wird. Weil man sich
mit dem eigenen Leben subjektiv, emotional, persönlich
auseinandersetzt, wird das leicht in so ein Eck geschoben.
Wenn man eigene Erfahrungen verarbeitet, so wie es viele
Bücher gibt von geschlagenen Frauen, über sexuellen Mi߬
brauch, so wird das als Erfahrungsliteratur auf niederer
Stufe gesehen.

Reiter: Den Ausgangspunkt des Persönlich-Erfahrungs¬
mäßigen teilt der Essay mit dem Poststrukturalismus. Nach¬
dem Sie so lange in Frankreich gelebt haben, wollte ich
wissen, ob sie dazu einen Bezug haben, beeinflußt sind oder
ob das für Sie gar keine Rolle spielt?

Beckermann: Ich war schon vorher in gewisser Weise
frankophil eben durch Duras und Virillio, auch Lévi¬
Strauss, aber direkt spielt der Poststrukturalismus fiir mich
keine Rolle.

Reiter: Welche Rolle spielt Jean Améry fiir Sie. Sie haben
einen Aufsatz tiber ihn geschrieben.

Beckermann: Ich kann es nicht so begriinden, aber es gibt
einfach Schriftsteller, die so wichtig sind, die zur Familie
gehören. Da ist Améry einer, so wie Primo Levi einer ist
oder Thomas Bernhard und Ingeborg Bachmann. Zur Fa¬
milie gehören natürlich auch Celan, Kafka und Joseph
Roth. Altösterreicher.

Aber ich kann es nicht so begriinden. Bei Améry istes schon
klar, daB es die Erfahrung, die Thematik ist, die mich
anzieht, auch die Radikalität und der Schmerz, den ich
empfinde, daß er in Brüssel gesessen ist und daß er auch in
Frankreich nicht diesen Zugang sich verschafft hat, obwohl
es möglich gewesen wäre.

Reiter: Er hat ja nicht französisch geschrieben.
Beckermann: Nein, aber er hätte es können, er sagt ja
irgendwann einmal, vielleicht wäre es doch besser gewe¬
sen, wenn ich die Entscheidung getroffen hätte, ein franzö¬
sischer Schriftsteller zu werden. Er hat sich ja dafür ent¬
schieden, weiter deutsch weiterzuschreiben. Dieser
Schmerz des Dazugehörenwollens und des Nicht-Dazuge¬
hörenkönnens und vor allem das Durchschauen dieser selt¬
samen Ehrungen. Ich meine, wenn man eitel genug ist, das
nicht zu durchschauen, geht es einem besser. Aber er hats
durchschaut.

Reiter: Welche Beziehung haben Sie zu jüdischen Schrift¬
stellern der zweiten Generation? Sie haben in „‚Die papie¬
rene Brücke“ Robert Schindel erwähnt.

Beckermann: Ja, das ist ein Freund von mir und der Doron
Rabinovici. [...] Mit dem John Bunzl bin ich eigentlich
schon sehr lange sehr gut, wir haben auch sehr viel politisch
gemeinsam gemacht, in der Friedensbewegung in Israel. Es
gibt so wenige, und Wien ist tiberhaupt so ein Dorf, man
kennt jeden.

Das Gespräch mit Ruth Beckermann fand am 21. Febru¬
ar 1996 statt.

Bücher und Filme von Ruth Beckermann

(Drehbuch und Regie gemeinsam mit Josef Aichholzer)
Arena besetzt. Dokumentarfilm. Österreich 1977.
(Drehbuch und Regie gemeinsam mit Josef Aichholzer)
Auf amol a Streik. Dokumentarfilm. Österreich 1978.
(Drehbuch und Regie gemeinsam mit Josef Aichholzer)
Der Hammer steht auf der Wies’n da draußen. Doku¬
mentarfilm. Österreich 1981.

(Gemeinsam mit Christa Blümlinger, Gerhard Botz)
Widerstand im Salzkammergut. Unter Einsatz von au¬
diovisuellen Medien als Forschungs- und Darstellungs¬
instrument. Salzburg: Ludwig- Bolzmann Institut 1985.

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