Jiddisch sprechen hörte ich zunächst von den Müttern meiner neuen Freunde in der
Vereinigung sozialistischer Mittelschüler. Mit sechzehn Jahren war ich zur Arbeits¬
gemeinschaft sozialistischer Erzieher, Gruppe Hernals, gestoßen. Bald danach fand
ich auch den Weg in die Ottakringer Kirchstetterngasse, wo sich, knapp bei der
Kirche, das Versammlungslokal der sozialistischen Mittelschüler befand. In der
Gruppe Ottakring/Hernals gab es viele Schüler aus jüdischen Familien, deren Väter
in der Mehrzahl als Handwerker oder Lohnarbeiter ihren Lebensunterhalt verdien¬
ten und solcherart die Sprache ihrer Umgebung längst übernommen hatten, während
die Kinder schon mit „Ottakringerisch“ aufgewachsen waren.
Aber die Mütter, an den Herd gebannt, sprachen meist nur jiddisch. Erkundigte ich
mich nach einem Sohn, einer Tochter, gab für sie eine Nachricht ab oder holte ein Buch
— dann hörte ich Jiddisch.
Von jung an sprachlich interessiert, faszinierte mich die Sprache, welche, dem
Mittelhochdeutschen nahe, über deutsche Wörter verfügte, die nicht mehr im Gebrauch
waren und oft poetisch wirkten, wie mir überhaupt die Ausdrucksweise der Jiddisch¬
sprechenden der wienerischen überlegen schien. ‚Sie haben viel zu tun?“ , fragte ich
Mutter K., die geschäftig in der Küche hantierte. „Ja“ , antwortete sie, ‚„‚wir bekommen
Besuch und einem Gast muß man doch Ehre erweisen.“ „‚Ehre erweisen“ — so hätte
sich keine Wienerin ausgedrückt.
Es war die fremde Kultur, die sich hinter dieser Sprache verbarg und mich anzog.
„Gerechter Gott“ rief Frau K. aus, wenn sie in Bedrängnis war. Gerechter, nicht
lieber Gott, wie die Wiener, die alles zu einer fragwürdigen Gemütlichkeit herab¬
würdigen.
Ja, Gerechtigkeit, das war auch mein Anliegen und noch vor kurzem waren Gustl
W. und ich uns einig, daß es Gerechtigkeitsstreben war, das uns in die sozialistische
Bewegung gebracht hatte.
Als mir sechs Jahre später ein polnischer Bundist in London ein gutes Paar Schuhe
reichte — die Halbschuhe, welche ich anhatte, waren hübsch, hatten aber nur eine
Holzsohle — und ich ihm das Geld dafür gegeben hatte, sagte er: „„Meegen Se se in
Gesundheit tragen.“ Das empfand ich als wohltuend.
Jiddisch, so sagte ich mir, ist die Intimsprache meiner neuen Freunde, so wie es für
mich der Wiener Dialekt ist.
Dann war da noch das seltsame Erlebnis im halbfinsteren Eisenbahnwagen.
Ich fuhr in den Jahren 1935 und 1936 mehrmals in die Tschechoslowakei. Ich tat es
mit dem Personenzug und während der Nacht. Es war die billigste Möglichkeit.
Auf einer dieser Fahrten setzte sich ein kleiner Mann neben mich. Er war von einem
sehr zarten Knochenbau, hatte eine sehr weiße Haut und feines, rotblondes Haar, das
unter seinem Hut in zwei Schläfenlocken herabhing: ein orthodoxer Jude. Mit leiser,
dennoch eindringlicher Stimme begann er jiddisch zu sprechen. In dithyrambischen
Kaskaden lieferte er Bilder eines glückseligen Menschenlebens, in dem es keinen
Mangel, keine Angst und kein Leid gab, das Lamm lag beim Wolf.
Es war absurd. In Deutschland wurden die Nürnberger Gesetze verwirklicht, die
Tschechoslowakei tat ihre letzten Atemzüge vor dem Einmarsch Hitlers und ich saß
da, voll Angst, die Polizei könne mich aus dem Zug holen. Aber dieser Jude ließ
freudige Lobgesänge hören, sein Antlitz strahlte vor Glück.
Ich schwieg beklommen und begann, mich meiner Leiblichkeit zu schämen: meiner
Größe, meines wohlgenährten Körpers, meiner kräftigen Glieder, was das Menschen¬
wesen neben mir, das keine Substanz zwischen Haut und Knochen zu haben schien, zu
einem schutzbedürftigen Vögelchen werden ließ. —
Am Morgen des 7. Jänner 1937 holte mich die Polizei. Es war keine Überraschung.
Schon vor Weihnachten hatte ich mich auf allen Wegen - stets zu Fuß, denn für die
Straßenbahn hatte ich kein Geld - verfolgt gefühlt. Zudem hatte die brave Hausmeiste¬
rin der Tante, bei welcher ich wohnte, verraten, daß sich ein „‚Kieberer“ nach mir
erkundigt habe. So hatte ich noch meinen Paß in Sicherheit bringen können. Ich vergrub
ihn im kleinen Schrebergarten entfernter Verwandter.