OCR
Henriette Kotlan- Werner Jiddisch - eine Gefängniserinnerung aus der Dollfußzeit Jiddisch sprechen hörte ich zunächst von den Müttern meiner neuen Freunde in der Vereinigung sozialistischer Mittelschüler. Mit sechzehn Jahren war ich zur Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Erzieher, Gruppe Hernals, gestoßen. Bald danach fand ich auch den Weg in die Ottakringer Kirchstetterngasse, wo sich, knapp bei der Kirche, das Versammlungslokal der sozialistischen Mittelschüler befand. In der Gruppe Ottakring/Hernals gab es viele Schüler aus jüdischen Familien, deren Väter in der Mehrzahl als Handwerker oder Lohnarbeiter ihren Lebensunterhalt verdienten und solcherart die Sprache ihrer Umgebung längst übernommen hatten, während die Kinder schon mit „Ottakringerisch“ aufgewachsen waren. Aber die Mütter, an den Herd gebannt, sprachen meist nur jiddisch. Erkundigte ich mich nach einem Sohn, einer Tochter, gab für sie eine Nachricht ab oder holte ein Buch — dann hörte ich Jiddisch. Von jung an sprachlich interessiert, faszinierte mich die Sprache, welche, dem Mittelhochdeutschen nahe, über deutsche Wörter verfügte, die nicht mehr im Gebrauch waren und oft poetisch wirkten, wie mir überhaupt die Ausdrucksweise der Jiddischsprechenden der wienerischen überlegen schien. ‚Sie haben viel zu tun?“ , fragte ich Mutter K., die geschäftig in der Küche hantierte. „Ja“ , antwortete sie, ‚„‚wir bekommen Besuch und einem Gast muß man doch Ehre erweisen.“ „‚Ehre erweisen“ — so hätte sich keine Wienerin ausgedrückt. Es war die fremde Kultur, die sich hinter dieser Sprache verbarg und mich anzog. „Gerechter Gott“ rief Frau K. aus, wenn sie in Bedrängnis war. Gerechter, nicht lieber Gott, wie die Wiener, die alles zu einer fragwürdigen Gemütlichkeit herabwürdigen. Ja, Gerechtigkeit, das war auch mein Anliegen und noch vor kurzem waren Gustl W. und ich uns einig, daß es Gerechtigkeitsstreben war, das uns in die sozialistische Bewegung gebracht hatte. Als mir sechs Jahre später ein polnischer Bundist in London ein gutes Paar Schuhe reichte — die Halbschuhe, welche ich anhatte, waren hübsch, hatten aber nur eine Holzsohle — und ich ihm das Geld dafür gegeben hatte, sagte er: „„Meegen Se se in Gesundheit tragen.“ Das empfand ich als wohltuend. Jiddisch, so sagte ich mir, ist die Intimsprache meiner neuen Freunde, so wie es für mich der Wiener Dialekt ist. Dann war da noch das seltsame Erlebnis im halbfinsteren Eisenbahnwagen. Ich fuhr in den Jahren 1935 und 1936 mehrmals in die Tschechoslowakei. Ich tat es mit dem Personenzug und während der Nacht. Es war die billigste Möglichkeit. Auf einer dieser Fahrten setzte sich ein kleiner Mann neben mich. Er war von einem sehr zarten Knochenbau, hatte eine sehr weiße Haut und feines, rotblondes Haar, das unter seinem Hut in zwei Schläfenlocken herabhing: ein orthodoxer Jude. Mit leiser, dennoch eindringlicher Stimme begann er jiddisch zu sprechen. In dithyrambischen Kaskaden lieferte er Bilder eines glückseligen Menschenlebens, in dem es keinen Mangel, keine Angst und kein Leid gab, das Lamm lag beim Wolf. Es war absurd. In Deutschland wurden die Nürnberger Gesetze verwirklicht, die Tschechoslowakei tat ihre letzten Atemzüge vor dem Einmarsch Hitlers und ich saß da, voll Angst, die Polizei könne mich aus dem Zug holen. Aber dieser Jude ließ freudige Lobgesänge hören, sein Antlitz strahlte vor Glück. Ich schwieg beklommen und begann, mich meiner Leiblichkeit zu schämen: meiner Größe, meines wohlgenährten Körpers, meiner kräftigen Glieder, was das Menschenwesen neben mir, das keine Substanz zwischen Haut und Knochen zu haben schien, zu einem schutzbedürftigen Vögelchen werden ließ. — Am Morgen des 7. Jänner 1937 holte mich die Polizei. Es war keine Überraschung. Schon vor Weihnachten hatte ich mich auf allen Wegen - stets zu Fuß, denn für die Straßenbahn hatte ich kein Geld - verfolgt gefühlt. Zudem hatte die brave Hausmeisterin der Tante, bei welcher ich wohnte, verraten, daß sich ein „‚Kieberer“ nach mir erkundigt habe. So hatte ich noch meinen Paß in Sicherheit bringen können. Ich vergrub ihn im kleinen Schrebergarten entfernter Verwandter. Noll, Chaim: Nachtgedanken über Deutschland. Essay. Reinbeck: Rowohlt 1992. Anmerkungen zu Reiter/Beckermann 1 Lea Fleischmann, deren Buch Dies ist nicht mein Land beinahe zehn Jahre vor Unzugehörig erschien, behielt Ähnliches in Erinnerung. 2 Das Gutachten von Karl Müller für die Disziplinarkommission im Bundesministerium ergab allerdings, daß Hrdlicka disziplinarrechtlich nicht zu belangen war. 3 Interview der Autorin mit Ruth Beckermann, 21.2.1996 in Wien. 4 Anna Mitgutsch: Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus. Statement zur Podiumsdiskussion bei der Eröffnungsveranstaltung des Symposiums „Frauen im Exil“. (Wien 1995). In: MdZ 4, 1995, S. 17f. 5 Persönliche Mitteilung Beckermanns vom 9. August 1996. 6 Persönliche Mitteilung Beckermanns vom 25. März 1996. Foto: Alisa Douer Henriette Kotlan-Werner, geboren 1910 in Wien, studierte Germanistik und Anglistik. Als sie schon ihr Philosophicum abgelegt hatte und vor den Hauptrigorosen (Prüfungen zur Erlangung des Doktorgrades) stand, wurde sie wegen illegaler politischer Betätigigung für die im „Ständestaat“ verbotene Sozialdemokratie verhaftet und verbrachte drei Monate im Polizeigefängnis, sechs Monate als Untersuchunsgshäftling im Wiener Landesgericht. Im Oktober 1937 bedingt aus 25