gen. Auch ich war nervös, konnte nicht schlafen. Sie muß doch schon ganz erschöpft
sein, sagte ich mir.
Was die ganze Situation auf die Spitze trieb, war die Tatsache, daß dieses Jammern
auf Jiddisch erfolgte.
Als ein Rest vormaliger Rechtsstaatlichkeit hatte sich im Landesgericht die Einrich¬
tung „Bitten und Beschwerden“ erhalten. Einmal in der Woche ließ sich ein höherer
Justizbeamter von Zelle zu Zelle führen: ‚‚Bitten oder Beschwerden?‘ Der Häftling
konnte aus der Türe treten und sprechen. Von dieser Möglichkeit machte ich Gebrauch.
„Wir haben“, sagte ich, ‚‚eine neue Gefangene, die zugegebenermaßen uns allen sehr
beschwerlich fällt. Trotzdem darf sie aber deshalb von den Aufseherinnen nicht
beschimpft und geschlagen werden“. (Später erfuhr ich, daß außer mir noch eine
„Politische“ in derselben Angelegenheit eine Beschwerde vorgebracht hatte. War es
Hilde Mareiner?)
Wir alle wußten und hatten es beim Spaziergang flüsternd ausgesprochen, daß die
polnische Frau, von der wir annahmen, daß sie wegen Devisenschmuggels verhaftet
worden war, darum kämpfte, in die Spitalsabteilung überstellt zu werden.
Eine Stunde, nachdem ich meine Beschwerde vorgebracht hatte, wurde meine
Zellentiir aufgesperrt und mit dem zornigen Ruf „Da ham’s Ihnere Freundin!“ eine
junge Frau hereingestoßen. Ich erriet: Dies war die Jiddisch sprechende Polin, die
unsere Nachtruhe störte. Sie war bei der Tür stehen geblieben und für eine Weile blieben
wir beide stumm. Da fiel ihr Blick auf meine Seife. ‚Se haben Seife? Haben Se se im
Gewelb gekauft?“
»Gewölb“ für „Geschäft“, wie bei Nestroy, dachte ich.
»Ja“ , antwortete ich, ‚‚wenn man Geld hat, kann man sich das besorgen lassen.“ Es
gab einen Sessel und einen kleinen Klapptisch in der Zelle und die Pritsche. Auf diese
setzten wir uns.
Ich fragte sie nach ihrem Zuhause, und sie erzählte von einer Schwester, die vom
Ghetto nach ‚‚draußen“ geheiratet hatte. Diese, fügte sie stolz hinzu, besitze sogar eine
Nähmaschine.
Das ließ mich ihre trostlose Armut erkennen. Warum sie denn so sehr um eine
Überstellung in die Krankenabteilung kämpfe, welchen Vorteil sie sich davon erwarte?
Das beantwortete sie nicht, aber sie klagte, daß sie nicht nach Hause schreiben dürfe.
„Das stimmt nicht. Alle Untersuchungshäftlinge dürfen das.“ Doch sie beharrte auf
ihrer Feststellung: Ein Brief, den sie an ihre Eltern in Polen gerichtet hatte, sei ihr
zurückgegeben worden: ‚Sie sagen, sie können ihn nicht lesen.“ „‚Eine Gemeinheit“,
empörte ich mich, ‚‚jeder Deutschsprechende kann Jiddisch ziemlich gut verstehen.“
Es bedurfte noch einiger Fragen und Antworten, ehe ich begriff: Die Arme hatte
keine öffentliche Schule besucht und verstand nur, mit hebräischen Buchstaben zu
schreiben! An diese Möglichkeit hatte ich nicht gedacht. Die Leute in der Zensurstelle
des Landesgerichtes konnten den Brief wirklich nicht lesen.
Und Sie werden einen Brief nach Polen schicken, sagte ich jetzt.
»Ich habe Schreibpapier und einen Bleistift, ich setz‘ mich an den Tisch und Sie
werden mir gleich diktieren. Ich nahm Papier und Bleistift vom Wandbrett und sie
begann: „Liebe Eltern!“ diktierte sie und erklirte: ,, Wissen Se, wir haben ein Wort für
Vater und Mutter.“
Nach einigen Satzen unterbrach ich sie. ,,Ich wei® nicht, ob wir so weiterschreiben
sollen. Sie ängstigen mit Ihrem Klagen Ihre Eltern zu sehr, machen ihnen das Herz
schwer. Geht es nicht anders?“ Sie sah mich unglücklich an und ich schrieb weiter.
Wir brachten den Brief zu Ende.
Danach fragte sie mich, warum ich im Gefängnis sei. Ich versuchte, es ihr zu
erklären. Ihr Taktgefühl gebot ihr zu schweigen, aber der Ausdruck ihres Gesichts, ihr
unbewußt, sprach deutlich: fassungsloses Staunen über meine Unkenntnis dieser Welt
und so etwas wie Mitleid für meinen kindischen Glauben, in ihr etwas zum Besseren
wenden zu können.
Da wurde die Zellentür aufgesperrt. Die Aufseherin, welche mir die Polin triumphie¬
rend hereingestoßen hatte, führte sie jetzt wortlos hinaus. „Sie hat einen Brief abzuge¬
ben“, sagte ich zu ihr, ‚‚den die Herren lesen können werden.“
Ich war wieder allein in meiner Zelle und ich grübelte. Die Erinnerung an den
Mithäftling, der unsere Nachtruhe gestört hatte, verblaßte, aber ich vergaß dieses Kind
des Ghettos nicht.
1943 lebte ich in London, als Emigrantin und Untermieterin. Da wurde ich eines
Abends ans Telefon gerufen: Oscar und Marianne Pollak fragten, ob ich sie aufsuchen
mehr erkennen. Eine Karriere für Henriette
Kotlan in dieser Partei? Das schloß auch sie
für sich selber aus. 1987 der lang hinausge¬
zogene — für sie sehr schwere — Entschluß,
aus der SPÖ auszutreten.
Es ist seit Jahren immer schwieriger ge¬
worden, diese Mitgliedschaft bei gleichzei¬
tiger Bewahrung seiner Selbstachtung auf¬
rechtzuerhalten.
Das Ende der ,, Arbeiter-Zeitung“, der Zerfall
der Konsumgenossenschaft, für die sie mehre¬
re Jahre gearbeitet hatte, waren für die leiden¬
schaftliche ,,Genossenschafterin keine Uber¬
raschungen mehr, es machte sie nur noch trau¬
riger. Traurig war sie auch darüber, daß sie nur
sehr wenige Leute kannte, mit denen sie reden
konnte, die sie verstanden.
Dennoch wurde sie nicht müde für „ihre
Sache“ unterwegs zu sein. Und wenn es nur
das Projekt war, aus einer, wie sie es immer
nannte, „fiktiven Hausgemeinschaft* eine
soziale Gemeinschaft zu machen. Oder ein
Projekt für arbeitslose Jugendliche, das für
sie das Problem der Zeit und somit der Zu¬
kunft war. „Für das Gemeinwohl zu sorgen,
das schien mir eine gute Sache, und dieser
Meinung bin ich noch heute.“ Die energie¬
geladene, zutiefst humanistisch gebildete
Frau war bis zum Tag vor ihrem Tod am 26.