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166 „Gut, gehen wir!“ stimmte Kallenbruck hastig, allerdings ohne besondere Begeisterung zu. „Zumindest kannst du dich dann von der Unsinnigkeit deiner Anschuldigungen überzeugen. Aber... wie soll ich mit so einer Nase auf die Straße gehen?“ „Du stellst einfach den Kragen auf. Außerdem wird es sowieso schon dunkel.“ Professor Doktor Otto Kallenbruck hüllte sich bis zu den Augen in seinen Schal und stellte den Mantelkragen auf. Er ließ seinem Freund den Vortritt und ging hinter ihm zur Treppe. Nun lobte er nicht mehr länger die Vorsehung, die ihm in schwerer Zeit Herrn von der Pfordten geschickt hatte. Nur allzu gerne wäre er diesen hartnäckigen Menschen wieder losgeworden, der statt einer Tröstung das Schlangennest des Zweifels in seine Seele hatte fallen lassen. Entsetzt dachte er daran, daß der außerordentliche Kummer, der ihn soeben ereilt hatte und den er noch eine Zeit lang hätte geheimhalten können, nun in der ganzen Stadt bekannt würde. Von der Pfordten würde das Ereignis überall ausposaunen, was ihm bei seinen weitreichenden Beziehungen bis hinauf in die Parteiführung nicht besonders schwerfallen würde. Hätte irgendjemand anderer ein derart unwahrscheinliches Gerücht verbreitet, hätte man ihm noch nicht glauben müssen. Aber Theodor von der Pfordten, dem Verfasser der ersten nationalsozialistischen Verfassung, dem Gesetzgeber der ruhmreichen Münchner Revolution vom 9. November 1923, dem Teilnehmer an der unvergeßlichen Schlacht bei der Feldherrnhalle - ja, Theodor von der Pfordten würde jeder ohne Zögern glauben! Da kam dem Professor plötzlich ein überaus sonderbarer, unerhörter Gedanke: „Bleiben Sie stehen, denn wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, wurde von der Pfordten doch in der Schlacht bei der Feldherrnhalle getötet!...“ Professor Kallenbruck erstarrte mit erhobenem Bein auf der Treppenstufe. Er wollte sich schon umdrehen, um im Schrank das ,,Nationalsozialistische Nachschlagewerk“ herauszusuchen und dort in den ,,Lebensbeschreibungen unserer Fiihrer“’ nachschauen, ob sein Freund Theodor von der Pfordten nun tatsächlich gestorben oder am Leben geblieben war. Aber da drehte sich der grauhaarige Herr, der vor ihm die Stiege hinunterging, ebenfalls um und blieb stehen. 38. „, Vielleicht hast du es dir überlegt?“ fragte er mit unverhüllter Ironie. „Wir können dableiben, ich bestehe nicht darauf.“ „Nein, nein, wo denkst du hin!“ antwortete Kallenbruck hastig. Er tappte die Stufen hinunter und wandte den feindseligen Blick keinen Augenblick lang vom festen Nacken von der Pfordtens. An der freien Stelle zwischen den Krempen der Kastormelone und dem gestärkten Kragen quoll als rundliche, weiche, rosarote Falte der Hals hervor. * Draußen nieselte es. Plötzlich gingen in der feuchten Dämmerung die Laternen an. Die Straßenlaternen standen in zwei Reihen da. Sie glichen hochaufgeschossenen Soldaten mit Stahlhelmen, die in der Dunkelheit vom Scheinwerferlicht erfaßt wurden. Professor Kallenbruck hatte ein Gefühl, als ob er durch eine in Reih und Glied aufgestellte Abteilung zum Galgen geführt würde. An der Kreuzung schlugen zwei Burschenschaftler mit bunten Kappen methodisch und lustlos mit ihren Stöcken auf einen kleinen Mann ein, der mit der Hand seinen Kopf zu schützen suchte. Ein Bursche mit grüner Barchentkappe sprach dazu in belehrendem Ton: „Geh doch hinüber, du verfluchter Jude, auf die andere Seite, wenn wir hier gehen. Treib dich nicht vor unseren Füßen herum!“ Ein dritter Bursche mit roter Kappe stand etwas weiter entfernt in der Pose des neutralen Beobachters, er beschränkte sich auf lakonische Ratschläge wie etwa: „Schlag ihn auf die Nasenwurzel!“ Oder: ,,Gib’s ihm noch einmal auf das linke Ohr!“ Mitten auf der Kreuzung stand ein Polizist mit lackiertem Helm, starr und unbeweglich wie eine Statue mit schlaff vom Gürtel herabhängendem Gummiknüppel. Der arme Professor Kallenbruck versank in seinem Schal und schlich an den beschäftigten Burschenschaftern vorbei. Er beschleunigte seinen Schritt und wollte den vorauseilenden von der Pfordten einholen. Aber der wurde ebenfalls sofort schneller, und Kallenbruck begriff, daß sein Freund bewußt nicht neben ihm gehen wollte. Sie gingen noch durch ein weiteres Viertel, dann wandte sich Herr von der Pfordten dem Tor eines großen, schwach erleuchteten Gartens zu. Nach der Lage zu urteilen, mußte es sich um den Tiergarten handeln, obwohl er eher dem botanischen Garten ähnelte. Dieser Eindruck ergab sich wegen der Bäume, die hier wuchsen und die absonderlichsten Formen in großer Mannigfaltigkeit aufwiesen. Es gab da Riesen wie die Affenbrotbäume; da standen schlanke und hochgewachsene Arten wie die Zypressen; es gab Bäume, die unten vielfach verästelt, an der Krone aber völlig entlaubt waren, sodaß es aussah, als ob sie auf dem Kopf stünden, und umgekehrt gab es welche, die unten abgerupft und oben kraus waren wie die Strauchpalmen; es gab zur Seite geneigte wie die riesigen Saksaulstauden und kugelförmige, die von den kunstfertigen Händen des Gärtners einen Schnitt verpaßt bekommen hatten. Alle Bäume waren von oben bis unten entweder voller Zapfen oder Früchte — genau konnte man das bei der schwachen Beleuchtung nicht erkennen. In der Mitte des mit Schotter aufgeschütteten Platzes erhob sich ein runder Kiosk mit zahlreichen kleinen Fenstern. Herr von der Pfordten blieb bei einem von ihnen stehen und wartete auf den schwer atmenden Kallenbruck. „Hier bekommen Sie jede Auskunft“, er zeigte dem Professor das erleuchtete Fenster und den darin sichtbaren Kopf eines feuerroten, großmauligen Beamten mit Kaiser Wilhelm-Schnurrbart. Das Gesicht des Beamten war mit Sommersprossen übersät wie ein Tablett mit Kupferflecken. „Was soll das?“ wunderte sich Kallenbruck. ‚Sie wollten mich doch an einen Ort bringen, wo man Einblick in das Geburtsregister nehmen kann?“ „Ganz recht.“ ‚„„Aber wenn ich nicht irre, dann ist das hier doch der Tiergarten!“ meinte der Professor zweifelnd. „Sie irren sich nicht. Früher war hier tatsächlich der Tiergarten. Wir haben daraus einen genealogischen Garten gemacht.“ „Einen ge-ne-a-lo-gi-schen Garten?“ fragte Kallenbruck ziemlich erstaunt nach. „Ja genau. Haben Sie wirklich noch nichts davon gehört? Es handelt sich dabei um eine außergewöhnliche Errungenschaft unserer Stadt, um einen wahren Triumph unserer Verwaltung. Statt in jedem einzelnen Fall in den unvollständigen Akten der Matrikelaufzeichnungen zu wühlen, die noch dazu in Dutzenden Archiven verstreut sind, kommt man einfach hierher. Jeder Berliner kann hier seinen Stammbaum finden. Er zeigt ihm plastisch seine genealogischen Wurzeln bis zurück ins zehnte Glied. Sie müssen dazu nur diesen Fragebogen ausfüllen.“ Von der Pfordten schob Kallenbruck eines der vor dem Fensterchen liegenden Formulare zu, tauchte die Feder ins Tintenfaß und überreichte sie beflissen dem Professor: