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„Gut, gehen wir!“ stimmte Kallenbruck
hastig, allerdings ohne besondere Begei¬
sterung zu. „Zumindest kannst du dich
dann von der Unsinnigkeit deiner An¬
schuldigungen überzeugen. Aber... wie
soll ich mit so einer Nase auf die Straße
gehen?“

„Du stellst einfach den Kragen auf. Au߬
erdem wird es sowieso schon dunkel.“
Professor Doktor Otto Kallenbruck hüllte
sich bis zu den Augen in seinen Schal und
stellte den Mantelkragen auf. Er ließ sei¬
nem Freund den Vortritt und ging hinter
ihm zur Treppe.

Nun lobte er nicht mehr länger die Vor¬
sehung, die ihm in schwerer Zeit Herrn
von der Pfordten geschickt hatte. Nur
allzu gerne wäre er diesen hartnäckigen
Menschen wieder losgeworden, der statt
einer Tröstung das Schlangennest des
Zweifels in seine Seele hatte fallen las¬
sen.

Entsetzt dachte er daran, daß der außer¬
ordentliche Kummer, der ihn soeben
ereilt hatte und den er noch eine Zeit lang
hätte geheimhalten können, nun in der
ganzen Stadt bekannt würde. Von der
Pfordten würde das Ereignis überall aus¬
posaunen, was ihm bei seinen weitrei¬
chenden Beziehungen bis hinauf in die
Parteiführung nicht besonders schwer¬
fallen würde.

Hätte irgendjemand anderer ein derart un¬
wahrscheinliches Gerücht verbreitet, hätte
man ihm noch nicht glauben müssen. Aber
Theodor von der Pfordten, dem Verfasser
der ersten nationalsozialistischen Verfas¬
sung, dem Gesetzgeber der ruhmreichen
Münchner Revolution vom 9. November
1923, dem Teilnehmer an der unvergeßli¬
chen Schlacht bei der Feldherrnhalle - ja,
Theodor von der Pfordten würde jeder
ohne Zögern glauben!

Da kam dem Professor plötzlich ein über¬
aus sonderbarer, unerhörter Gedanke:
„Bleiben Sie stehen, denn wenn mich mein
Gedächtnis nicht trügt, wurde von der
Pfordten doch in der Schlacht bei der Feld¬
herrnhalle getötet!...“

Professor Kallenbruck erstarrte mit erho¬
benem Bein auf der Treppenstufe.

Er wollte sich schon umdrehen, um im
Schrank das ,,Nationalsozialistische
Nachschlagewerk“ herauszusuchen und
dort in den ,,Lebensbeschreibungen un¬
serer Fiihrer“’ nachschauen, ob sein
Freund Theodor von der Pfordten nun
tatsächlich gestorben oder am Leben ge¬
blieben war.

Aber da drehte sich der grauhaarige Herr,
der vor ihm die Stiege hinunterging, eben¬
falls um und blieb stehen.

38.

„, Vielleicht hast du es dir überlegt?“ fragte
er mit unverhüllter Ironie. „Wir können
dableiben, ich bestehe nicht darauf.“
„Nein, nein, wo denkst du hin!“ antworte¬
te Kallenbruck hastig.

Er tappte die Stufen hinunter und wandte
den feindseligen Blick keinen Augenblick
lang vom festen Nacken von der Pfordtens.
An der freien Stelle zwischen den Krem¬
pen der Kastormelone und dem gestärkten
Kragen quoll als rundliche, weiche, rosa¬
rote Falte der Hals hervor.

*

Draußen nieselte es. Plötzlich gingen in der
feuchten Dämmerung die Laternen an. Die
Straßenlaternen standen in zwei Reihen da.
Sie glichen hochaufgeschossenen Solda¬
ten mit Stahlhelmen, die in der Dunkelheit
vom Scheinwerferlicht erfaßt wurden. Pro¬
fessor Kallenbruck hatte ein Gefühl, als ob
er durch eine in Reih und Glied aufgestellte
Abteilung zum Galgen geführt würde.

An der Kreuzung schlugen zwei Burschen¬
schaftler mit bunten Kappen methodisch
und lustlos mit ihren Stöcken auf einen
kleinen Mann ein, der mit der Hand seinen
Kopf zu schützen suchte. Ein Bursche mit
grüner Barchentkappe sprach dazu in be¬
lehrendem Ton:

„Geh doch hinüber, du verfluchter Jude,
auf die andere Seite, wenn wir hier gehen.
Treib dich nicht vor unseren Füßen her¬
um!“

Ein dritter Bursche mit roter Kappe stand
etwas weiter entfernt in der Pose des neu¬
tralen Beobachters, er beschränkte sich auf
lakonische Ratschläge wie etwa:

„Schlag ihn auf die Nasenwurzel!“

Oder: ,,Gib’s ihm noch einmal auf das
linke Ohr!“

Mitten auf der Kreuzung stand ein Polizist
mit lackiertem Helm, starr und unbeweg¬
lich wie eine Statue mit schlaff vom Gürtel
herabhängendem Gummiknüppel.

Der arme Professor Kallenbruck versank
in seinem Schal und schlich an den be¬
schäftigten Burschenschaftern vorbei. Er
beschleunigte seinen Schritt und wollte
den vorauseilenden von der Pfordten ein¬
holen. Aber der wurde ebenfalls sofort
schneller, und Kallenbruck begriff, daß
sein Freund bewußt nicht neben ihm gehen
wollte.

Sie gingen noch durch ein weiteres Viertel,
dann wandte sich Herr von der Pfordten
dem Tor eines großen, schwach erleuchte¬
ten Gartens zu. Nach der Lage zu urteilen,
mußte es sich um den Tiergarten handeln,
obwohl er eher dem botanischen Garten
ähnelte. Dieser Eindruck ergab sich wegen
der Bäume, die hier wuchsen und die ab¬

sonderlichsten Formen in großer Mannig¬
faltigkeit aufwiesen.

Es gab da Riesen wie die Affenbrotbäume;
da standen schlanke und hochgewachsene
Arten wie die Zypressen; es gab Bäume,
die unten vielfach verästelt, an der Krone
aber völlig entlaubt waren, sodaß es aus¬
sah, als ob sie auf dem Kopf stünden, und
umgekehrt gab es welche, die unten abge¬
rupft und oben kraus waren wie die
Strauchpalmen; es gab zur Seite geneigte
wie die riesigen Saksaulstauden und kugel¬
förmige, die von den kunstfertigen Händen
des Gärtners einen Schnitt verpaßt bekom¬
men hatten. Alle Bäume waren von oben
bis unten entweder voller Zapfen oder
Früchte — genau konnte man das bei der
schwachen Beleuchtung nicht erkennen.
In der Mitte des mit Schotter aufgeschütte¬
ten Platzes erhob sich ein runder Kiosk mit
zahlreichen kleinen Fenstern.

Herr von der Pfordten blieb bei einem von
ihnen stehen und wartete auf den schwer
atmenden Kallenbruck.

„Hier bekommen Sie jede Auskunft“, er
zeigte dem Professor das erleuchtete Fen¬
ster und den darin sichtbaren Kopf eines
feuerroten, großmauligen Beamten mit
Kaiser Wilhelm-Schnurrbart. Das Gesicht
des Beamten war mit Sommersprossen
übersät wie ein Tablett mit Kupferflecken.
„Was soll das?“ wunderte sich Kallen¬
bruck. ‚Sie wollten mich doch an einen Ort
bringen, wo man Einblick in das Geburts¬
register nehmen kann?“

„Ganz recht.“

‚„„Aber wenn ich nicht irre, dann ist das hier
doch der Tiergarten!“ meinte der Professor
zweifelnd.

„Sie irren sich nicht. Früher war hier tat¬
sächlich der Tiergarten. Wir haben daraus
einen genealogischen Garten gemacht.“
„Einen ge-ne-a-lo-gi-schen Garten?“
fragte Kallenbruck ziemlich erstaunt nach.
„Ja genau. Haben Sie wirklich noch nichts
davon gehört? Es handelt sich dabei um
eine außergewöhnliche Errungenschaft
unserer Stadt, um einen wahren Triumph
unserer Verwaltung. Statt in jedem einzel¬
nen Fall in den unvollständigen Akten der
Matrikelaufzeichnungen zu wühlen, die
noch dazu in Dutzenden Archiven ver¬
streut sind, kommt man einfach hierher.
Jeder Berliner kann hier seinen Stamm¬
baum finden. Er zeigt ihm plastisch seine
genealogischen Wurzeln bis zurück ins
zehnte Glied. Sie müssen dazu nur diesen
Fragebogen ausfüllen.“

Von der Pfordten schob Kallenbruck eines
der vor dem Fensterchen liegenden Formu¬
lare zu, tauchte die Feder ins Tintenfaß und
überreichte sie beflissen dem Professor: