die Familien der preußischen Polizisten um
ein Drittel weniger rasch vermehrten als ein¬
fache Arbeiterfamilien.
Beim Anblick des Löwenbräuschildes
schlug die Welle der auf ihn einstürmen¬
den Erinnerungen über dem Professor zu¬
sammen. In seine Augen traten Tränen der
Rührung.
Unwiderstehlich zog es ihn hin, nochmals,
wenn auch nur durch die Glasscheibe, ei¬
nen Abschiedsblick in das Innere der ver¬
trauten Kneipe und auf die Kollegen am
Tisch zu werfen.
Ja, sie saßen wie gewöhnlich dort an sei¬
nem geliebten Tisch mit dem ewigen
Schild ,,Reserviert‘‘. Der Professor sah er¬
regt seinen leeren Sessel. Da sie die ange¬
borene Piinktlichkeit von Kallenbruck
kannten, wiirden sie sich nun in Mutma¬
Bungen dariiber verlieren, was ihn wohl
daran hinderte, in dieser Minute bei ihnen
zu sein.
Fast alle waren schon da. Es fehlten nur
noch er und der wackere Doktor Himmel¬
stock, der offensichtlich in seiner Redak¬
tion aufgehalten worden war. In den groB¬
en geschliffenen Krügen glänzte das bern¬
steinfarbene Naß. Der arme Professor
spürte im Mund ganz deutlich den bitteren
Beigeschmack und fuhr sich mit der Zunge
über die Lippen.
Herr Justizrat Noldtke hielt ein dickes,
noch ungeöffnetes Buch in der Hand,
schlug mit der Handfläche darauf und re¬
dete auf den rundgesichtigen Professor
Müller mit dem idyllischen grauen Haar¬
kränzchen ein, das sich rund um seine Glat¬
ze zauste.
Professor Kallenbruck stellte sich auf die
Zehenspitzen und preßte sein Gesicht an
die Glasscheibe. Er wollte wissen, was das
für ein Buch war.
Die Berührung mit dem kalten Glas brach¬
te ihn augenblicklich aus der Sphäre der
melancholischen Träumereien zurück in
die düstere Realität.
„Was tun Sie denn da?“, erklang hinter
seinem Rücken eine bekannte Stimme.
Professor Kallenbruck drehte sich um.
Vor ihm stand der wackere Doktor Him¬
melstock, wie immer nagelneu eingeklei¬
det, mit einem neuen Filzhut, den er ein
bißchen in den Nacken geschoben hatte.
„Sind Sie blind?“ Er zeigte mit seinem
Stock auf einen Aushang im Fenster. „‚Ein¬
tritt für Juden verboten“ ,,Das sollte doch
klar sein?“ ...
„Aber Sie ... erkennen mich nicht?“ stam¬
melte Kallenbruck verwirrt.
„Ich habe keine Bekannten unter Angehö¬
rigen Ihrer Rasse und könnte sie auch gar
nicht haben!“ Würdevoll maß ihn Him¬
melstock mit seinen Blicken. „‚Gehen Sie
weiter und verderben Sie uns nicht die
Aussicht auf die Straße!“
Er schob Kallenbruck mit dem Stock weg
und verschwand im Eingang der Wirt¬
schaft.
Professor Kallenbruck taumelte zurück
und streifte einen Passanten. Der stieß ihn
mit solcher Kraft zurück, daß der arme
Gelehrte unter dem wohlwollenden Ge¬
lächter der Gaffer der Länge nach auf den
Boden fiel. Durch den Aufprall auf den
Gehsteig sprang dem Professor seine
Zahnprothese heraus. Er kroch ihr auf allen
vieren nach, aber jemand stieß sie vorsorg¬
lich mit dem Fuß in die Straßenmitte, unter
die vorbeifahrenden Automobile.
Professor Kallenbruck dachte, er könnte
sich auch ohne Zähne ertränken, stand auf
und bog hastig in das erste kleine Gäßchen
ab. Er war bemüht, sich unbemerkt durch¬
zuschlagen, nach einigen Minuten Gehen
war er unten an der Spree.
Auf der schwarzen Oberfläche des Flusses
schwammen die fetten Lichter der Later¬
nen.
Der Professor blieb auf der Brücke stehen.
Unten schmatzte das Wasser, es machte ganz
deutliche Schluckbewegungen. Die Wellen
drängten sich um die Brückenpfeiler, so als
ob sie hier auf Professor Kallenbruck warte¬
ten und ohne sich seiner Gegenwart zu schä¬
men, ergötzten sie sich bereits an seinem
etwas fülligen, aber für das Alter guterhalte¬
nen fünfzigjährigen Körper.
Eine derart eklatante Gleichgültigkeit im
Angesicht menschlicher Gefühle schien
dem Professor beleidigend zu sein. Eilig
überschritt er die Brücke, entschlossen,
sich an einem anderen Ort umzubringen.
Er stieg zum Kai hinunter und ging lange
am Fluß dahin, von Zeit zu Zeit blieb er auf
der Suche nach einem passenden Plätzchen
stehen.
Der Fluß eilte voraus und wartete genieße¬
risch schmatzend an jeder Biegung auf ihn.
Nach langem Suchen fand er schließlich
ein einsames Plätzchen nach seinem Ge¬
schmack, einen richtigen Zufluchtsort für
Selbstmörder. Da drangen das Gestampfe
marschierender Füße und die Klänge eines
Marschliedes an sein Ohr.
Es war sein Lieblingslied, das Horst Wes¬
sel-Lied, das im Löwenbräu des öfteren
mit gleichbleibendem Erfolg gesungen
worden war und das Professor Kallen¬
bruck immer mitgesungen hatte.
In Gedanken sang er die ersten Zeilen.
Plötzlich bemerkte er, wie sich der bis da¬
hin menschenleere Kai rasch belebte. Auf
den Gehsteigen und auf dem Pflaster liefen
Leute in alle Richtungen auseinander. Lär¬
mend schlugen Fenster und Türen zu.
Das Horst Wessel-Lied kam immer näher.
Plötzlich befand sich Professor Kallen¬
bruck unter den laufenden Menschen.Je¬
mand schrie ihm etwas auf Jiddisch ins
Ohr:
„Was stehst du denn da? Lauf!“
Der Professor wollte schon beleidigt sein,
daß man ihn für einen Juden hielt, aber er
kam nicht dazu. Panische Angst erfaßte
ihn, und ohne zu überlegen, stürzte er den
anderen hinterher.
Die Zahl der Laufenden wurde geringer.
Sie verloren sich in den Seitengassen und
in den Öffnungen der Häuser.
Professor Kallenbruck wußte nicht, wohin
er sich wenden sollte, er wußte nicht ein¬
mal genau, wo er sich befand. Um Atem
ringend lehnte er sich an eine Straßenlater¬
ne und schnappte gierig nach Luft.
„Lauf!“ schrie ein Mann, der an ihm vor¬
beirannte.
Gehorsam lief der Professor noch ein paar
Schritte weiter, schließlich sank er aber
kraftlos am Gehsteigrand nieder.
Der Mann, der ihn überholt hatte, blieb
unentschlossen stehen, dann drehte er sich
um, lud sich Kallenbruck auf die Schulter
und lief weiter.
Sie bogen in eine enge Seitengasse, und der
Mann, der Kallenbruck auf dem Rücken
trug, tauchte mit ihm ins Dunkel eines
großen Tores ein, aus dem ein scharfer
Geruch nach Knoblauch und Katzen kam.
Im zweiten Hof auf der Hintertreppe setzte
er Kallenbruck auf die Stufen. Beide atme¬
ten lang und rasch und horchten dabei auf