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verbunden. Ihre politischen Meinungen und Konflikte, ihre Entwicklungen stehen im Mittelpunkt seiner Erinnerungen. Mexikanische Politik kommt nur am Rande vor. Mexiko ist das Land, das ihn aufnahm, das ihn auch einbürgerte. Aber es wurde nicht zum Mittelpunkt seiner Interessen. Mexiko wurde ihm nicht wirklich Heimat. Die Mexikaner, die in seinen Erinnerungen eine Rolle spielen, sind entweder entfernte Lichtfiguren — wie Läzaro Cärdenas; oder austauschbare und manchmal korrupte Beamte; oder liebenswürdige Menschen des Alltags, die aber blaß bleiben. Die Menschen, die Kalmar wirklich bewegten, waren fast durchwegs Flüchtlinge. Denn das unterschied ihn (und die anderen) von wirklichen Einwanderern: Kalmar und die anderen waren nicht freiwillig aus ihrer Heimat gegangen, sie waren vertrieben worden. Die neue Heimat, Mexiko, konnte für viele — eben auch fiir Kalmar — nicht wirklich Heimat sein. Kalmar wollte 1945 nicht nach Osterreich zurück, auch wenn er in Mexiko keine dauerhaften Wurzeln geschlagen hatte. 1948 emigrierten die Kalmars wiederum — diesmal nach Australien. Und diesmal war es keine Vertreibung. Sie schieden von Mexiko als Freunde, ja als Mexikaner. Er resümierte: Wir waren Mexiko dankbar, daß es uns erlaubt hatte, die Kriegsjahre hier zu verbringen; wir waren dankbar für all die Schönheit, die wir in Mexiko gefunden hatten, für die große Vergangenheit dieser Nation, für die vielen Freundschaften, die wir geschlossen hatten. Wir waren zu Mexikanern geworden, wir hatten mexikanische Pässe. Aber ... wir hatten keine neue Heimat gefunden. Wir waren noch immer Wiener in einem fremden Land. (Kalmar 1987, 251) Es waren auch und vor allem die kommunistischen Emigranten, die nach 1945 relativ rasch in ihre Heimat zurückkehren konnten und wollten. Nicht für alle sollte diese Rückkehr erfolgreich sein. Otto Katz (Andre Simone) zum Beispiel kehrte 1946 nach Prag zurück — und wurde 1952 im Slansky-ProzeB zum Tode verurteilt und hingerichtet. Der Wiener, der Austromarxist, der Mexikaner Kalmar — er kam schließlich 1962 in die USA, nach Kalifornien. Und Jahrzehnte danach faßte er sein politisches Weltbild zusammen: ,,Ich bin kein Marxist mehr ... Ich betrachte mich als Liberalen, als Fortschrittlichen, als Humanisten.“ (Kalmar 1992, 140) Osterreich hatte Kalmar gehen lassen, Osterreicher hatten ihn vertrieben. Viele Osterreicher hatten dem Regime zugejubelt, dessen Greifer das Leben Kalmars bedrohten. 1945 hatte das alte-neue Osterreich nichts getan, um Kalmar zurtickzuholen. Und so blieb er ein ,, Wiener in einem fremden Land“. Literatur Stephen S. Kalmar: Goodbye, Vienna! San Francisco: Strawberry Hill Press 1987. Stephen Sam Kalmar: Windmills on My Head. Berkeley: Stephen S. Kalmar Publishing 1992. 38. Marta Markova Wer weiß heutezutage — außer Germanisten und Zeithistorikern — etwas über Alice RühleGerstel? In ihrem Geburtsort Prag wird sie verschwiegen, im deutschsprachigen Raum von einer neuen Generation von Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen entdeckt. Wer war sie? Sie wurde 1894 in Prag ins Fin-de-siécle geboren, noch in der österreich-ungarischen Monarchie. Alice war die Erstgeborene einer jiidischen wohlhabenden Familie, die einen offenen Laden mit Möbeln besaß und deshalb bei den Mitbürgern kein hohes Ansehen genoß. Zweisprachig — deutsch und tschechisch — aufgewachsen, begann sie noch als ‚‚Teenager“, gegen die muffigen familiären und Prager Verhältnisse zu revoltieren. Besonders die Beziehung zu ihrer Mutter, die in allen charakterlichen Facetten einer „jüdischen Mama“ entsprach, begleitete sie bis an ihr Lebensende. Sie verkehrte in den revoltierenden Kreisen ihrer Zeitgenossen aus den wohlhabenden Familien (Willy Haas, Egon Erwin Kisch, Franz Werfel). Und obwohl sie sich wie ihre Freunde gegen die bürgerliche Welt stellte, vernachlässigte sie nicht ihre eigene Bildung. Zielstrebig holte sie sich Wissen in Dresden, Prag und München. Als Zwanzigjährige arbeitete sie — neben ihrem Privatstudium — als freiwillige Krankenschwester in verschiedenen Kriegslazaretten. Wie ihre Freunde und Freundinnen war sie gegen den Fortbestand der österreichischen Monarchie, ging aber doch — nun Bürgerin der neuen selbständigen Tschechoslowakei — zum Studium nach Deutschland. Durch Vermittlung von Leonhard Seif lernte sie die Individualpsychologie Alfred Adlers kennen. Bald darauf gehörte sie - noch während ihres Studiums — zu Adlers Arbeitskreis. Im Jahre 1921 promovierte sie an der Philosophischen Fakultät München zum Dr. phil. mit einer Dissertation iiber ,, Friedrich Schlegel und Chamfort“. Bei einem Vortrag lernte sie den um zwanzig Jahre älteren Witwer Otto Rühle kennen, daraus entwickelte sich eine Lebensgemeinschaft. Ihrer Mutter schickte sie einen Zeitungsausschnitt nach Prag - ein Porträt Otto Rühles mit der Bemerkung: „Das ist Dein künftiger Schwiegersohn.“ Ab diesem Moment ging Alice ihren eigenen Weg, der von der menschlichen und intellektuellen Symbiose dieser zwei Menschen geprägt war. Alices Vielseitigkeit konnte sich entfalten. Im Juni 1922, als die beiden heirateten, ist Alice achtundzwanzig, Otto achtundvicrzig Jahre alt. Alice verlor durch die Heirat mit Otto Riihle ihre tschechoslowakische Staatsbürgerschaft. Ein Faktum, das im Jahre 1922 keine große Bedeutung für sie hatte. Erst Jahre danach, als Prag voll von Flüchtlingen war und sie selbst mit ihrem Gemahl ein Teil von diesen, bekam sie zu spüren, wie es ist, zu Hause in Prag zu sein, aber doch als Fremde, unter den geltenden Arbeitsbeschränkungen. Ihre Mitgift steckte Alice in die Gründung des Verlages „Am andern Ufer“, den sie gemeinsam mit Otto Rühle leitete, und in die Zeitschrift „Am andern Ufer — Blätter für sozialistische Erziehung“. Intellektuell vetraten Alice und Otto eine Synthese von Marxismus und Individualpsychologie, die die Grundlage ihrer Erziehungstheorie und Sozialwissenschaft wurde. Alice Rühle-Gerstel hielt Vorträge nicht nur in Berlin, Dresden, sondern auch in Wien (zusammen mit Erwin Wexberg, Aline Furtmüller, Marie Jahoda, Otto Felix Kanitz, Emerich Weissmann). Sie leitete Kurse in Erwachsenenbildungseinrichtungen, publizierte in der Zeitschrift „Individual Psychologie“ wie auch in dem angesehenen Blatt „Die Literarische Welt“ und war feste Mitarbeiterin des Hörfunks. Als Autorin der Bücher ,, Der Weg zum Wir. Versuch einer Verbindung von Marxismus und Individualpsychologie.“ (Dresden 1927) und ,,Das Frauenproblem der Gegenwart“ (Berlin 1932) wurde sie — obwohl keiner politischen Partei angehörend — von ihren Anhängern als die bedeutendste Theoretikerin der marxistischen Individualpsychologie angesehen. Für Alfred Adler selbst wiederum wurde um die Rühles herum zu viel politisiert. Anfang der dreißiger Jahre distanzierte er sich von dem linken Individualpsychologen-Kreis um Otto und Alice Rühle (Dresden) und um Manes Sperber (Berlin). Über die Möglichkeiten der Arbeiterbewegung und der Frauenbewegung unter dem Nationalsozialismus machten sich Alice und Otto Rühle keine Illusionen. Bei Hitlers Machtergreifung waren sie schon nach Prag übersiedelt. Alice arbeitete als Journalistin für deutschsprachige und tschechische Zeitungen. Sie gab Unterricht in Tschechisch und nahm Stunden in Spanisch. Nach ihrer Rückkehr begann ihre intensivste Lebensperiode in Prag seit ihrer Eheschließung. Sie traf sich nicht nur mit ihrer Familie, sondern auch mit den alten, gleichgesinnten Jugendfreunden. Für Willy Haas’ aus Deutschland nach Prag verlegte Zeitschrift „Die Welt im Wort“ schrieb sie Ratschläge über die Bewältigung des Alltags und über Lebenstechnik. Auf Empfehlungen von Ottos Tochter aus erster Ehe, Grete, und deren Mann, einem bekannten Schweizer Ökonomen, gingen die Rühles nach Mexiko. Zuerst Otto, der in Prag immer wieder in Schwierigkeiten geraten war, ein halbes Jahr später folgte ihm Alice nach.