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Für die vorgesehene Sozial- und Schulrefor¬
men unter der Regierung Läzaro Cärdenas’
waren Menschen mit der Kapazität der Rüh¬
les gefragt. Anfangs arbeitete Otto Rühle als
Berater im Erziehungsministerium und Alice
als Übersetzerin in einem Regierungsbüro.
Später -durch den politischen Wechsel in der
mexikanischen Regierung, den Zustrom von
Exilanten aus Europa und dem Kriegsbeginn
— wurde die gesamte politische Lage schwie¬
riger.
Nicht nur die ständige Sorge, ‚‚wovon wer¬
den wir die nächste Miete bezahlen?“ , son¬
dern eine Anzeige in einer Exilzeitschrift
brachte Alice zum Schreiben.
Die „American Guild for German Cultural
Freedom“ hatte 1938 für den besten unver¬
öffentlichen Exilroman einen Preis von
4.500 Dollar und die Veröffentlichung in den
USA, Großbritannien, Frankreich und den
Niederlanden ausgesetzt. So entstand derRo¬
man „Der Umbruch oder Hanna und die
Freiheit“, der im Prager Journalistenmilieu
spielt. Es ist der erste Roman, der gegen
Hitlers und Stalins Regime von einer Frau
geschrieben wurde. Ein Frauenschicksal,
“dem Alice Riihle-Gerstel biographischen
Ziige verlieh, verwoben mit dem politischen
Dschungel und der gesellschaftlichen und
pvlitischen Prominenz im Prag der dreißiger
Jahre. Zufälligerweise bekam Alice ihr Ma¬
nuskript am 15. März 1939, am gleichen Tag
als Hitler-Deutschland die ,,Rest-Tschechos¬
lowakei“ (Böhmen und Mähren) besetzte,
ohne Erklärung von der Jury zurückge¬
schickt. Der Roman war abgelehnt. Alice
bemühte sich all die Jahre danach um eine

man, aber der Krieg in Europa und die poli¬
tisch desinteressierten Medien in Amerika
verunmöglichten die Veröffentlichung.
Durch Intrigen von mexikanischen Kommu¬
nisten verlor Otto Rühle seinen Posten. Einen
Teil dazu trug seine Tätigkeit als Beisitzer in
der Dewey-Kommission bei, einem interna¬
tionalen Tribunal, das auf Wunsch Trotzkis
und der 4. Internationale Stalins Verbrechen
untersuchen sollte. Nach dem Attentat auf
Trotzki schrieb Alice aus der Perspektive der
weiblichen Beobachterin im Hintergrund
„Kein Gedicht für Trotzki. Tagebuchauf¬
zeichnungen aus Mexiko“. (Frankfurt 1979.)
Leo Trotzki lebte mit seiner Frau Natalija
Sedowa und mit Begleitung von 1937-1940
im Asylland Mexiko, in Coyoacän, damals
noch ein Außenbezirk von Mexiko-Stadt. So
war er sozusagen ein Nachbar der Rühles. Im
Mai 1940 wurde auf Trotzki ein erster Atten¬
tatsversuch — unter Leitung des kommunisti¬
schen Malers David Alvaro Siqueiros — ver¬
übt. Dabei kam der junge Robert Sheldon¬
Harte, einer von Trotzkis Wache, zu Tode.
Im August des gleichen Jahres ‚‚gelang“ es
Ramon, del Rio Mercader-Frank Jackson,
Trotzki zu ermorden.

Alice übersetzte für den neugegründeten
„Wiener Musikverein“ ins Spanische „Die
verkaufte Braut“ und ‚Die Fledermaus“. So
feierte 1941 in Ciudad de Mexico Smetanas

Oper „La Novia Vendida“ ihre Premiere.
Noch im gleichen Jahr kam ihr bereits 1924
erschienenes Buch ‚Freud und Adler. Ele¬
mentare Einführung in Psychoanalyse und
Individualpsychologie“ auf spanisch heraus.
Sie selbst hatte es übersetzt.

In all den sieben Jahren in Mexiko hatte Alice
sieben Berufe und den achten — die Armut.

und iibersetzte nicht nur aus ihrem eigenen
Werk, sondern übersetzte das Beste aus der
tschechischen Literatur. Sie arbeitete gele¬
gentlich und stundenweise in einem Büro,
verkaufte Bilder ihres Mannes sowie Silber
und Antiquitäten an Touristen.

Durch die neu angekommene kommunisti¬
sche, prostalinistische Emigration aus Euro¬
pa gerieten Alice und Otto immer mehr in
geistige und menschliche Isolation. Otto wie¬
derum bezeichnete sie alle ‚‚als falsche Fuff¬
ziger“, als „stalinistische Schreiber, nicht
Schriftsteller“. Der Hitler-Stalin-Pakt war
für Alice und Otto unerträglich, besonders
das Einschwenken der tschechischen und der
deutschen Partei auf diesen Kurs.

Es gibt eine Passage in einem Brief Alices an
eine in den USA lebende Freundin, vom Ja¬
nuar 1941, wo sie sich über ihren Jugend¬
freund Egon Erwin Kisch, der 1940 von New
York nach Mexiko gekommen war, beklagte.

... hier in Mexico, das sich schnell zu einer
amerikanischen Kolonie entwickelt, wird uns
zwar dasselbe Schicksal ereilen, aber gemil¬
dert durch Schlamperei, Korruption und den
eisernen Fatalismus der Urbevölkerung, die
mit 6 Millionen von 20 (darunter 2 Millionen,
die noch nicht mal spanisch verstehen) trotz
Armut und Unwissenheit immer dem Land
den Charakter geben und bei politischen
Umwälzungen stumm und langsam von der
Sierra heruntergewandert kommen, um zu
bestimmen, was letzten Endes mit dem Land
geschieht.

Da bin ich nun schon mitten in Mexico und
seinen Problemem, und denke mit einiger
Bitterkeit daran, daß ich nach fast fünf Jah¬
ren intensiven Hierseins, mit völliger Beherr¬
schung der Sprache und besten Beziehungen
zu vielerlei Leuten, die repräsentativ für das
Land sind, es mir immer noch nicht träumen
lasse, imstand zu sein, ein Buch darüber zu
schreiben (abgesehen davon, daß ich subjek¬
tiv keine Zeit und objektiv keine Chance dazu
hätte), während unser Freund Kisch, vor
sechs Wochen angekommen, wie ich höre
bereits einen Teil seines Manuskriptes über
Mexico abgeschickt hat; und da er es schrei¬
ben mußte, folglich kaum Zeit hatte, sich das
Land anzusehen ... Er hat sich bei uns bisher
nicht blicken lassen, nicht mal telefoniert.

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