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der ungarischen Juden, und gleich danach
folgt die Beschreibung der als historische
Kuriosität angesehenen Gruppe der mexika¬
nischen indianischen Juden — eine Art von
Aneinanderreihung dreier „exotischer“
Gruppen?

Das zweite Beispiel bezieht sich auf den eth¬
nischen Ursprung der Immigranten. Es wer¬
den als Ursprungsländer und -orte aufge¬
zählt: Litauen, Polnisch-Galizien, Aleppo,
Rußland, Polen, Mitteleuropa, Damaskus,
die Balkanländer.'® Nicht einmal zwischen
Österreich und Deutschland wird unterschie¬
den, daher ist es kaum verwunderlich, daß die
deutschsprachigen Exilanten in den hier er¬
wähnten historischen Quellen keine Erwäh¬
nung finden, geschweige denn, daß ihnen
eine Ehrung bei ihrer Ankunft zuteil wird.
Andererseits soll hier der Begrüßungsbesuch
erwähnt werden, der dem international be¬
kannten Leon Trotzki abgestattet wurde:
Eine Abordnung von jüdischen Redakteuren
und Zeitungsherausgebern suchte Trotzki im
Hause von Diego Rivera am 18. Januar 1937
auf. Das Gespräch mit ihm wurde auf Fran¬
zösisch geführt. Er bedauerte, nicht die me¬
xikanisch-jüdischen Zeitschriften lesen zu
können, da er, obwohl polyglott, nicht des
Jiddischen mächtig war, das heißt, die hebräi¬
schen Schriftzeichen nicht lesen konnte.
Weiterhin soll Trotzki erklärt haben:

In meiner Jugend neigte ich dazu vorauszu¬
sagen, daß sich die Juden in den verschiede¬
nen Ländern assimilieren würden und daß
die jüdische Frage automatisch gelöst wür¬
de. Die historische Entwicklung in den letz¬
ten 25 Jahren hat diese Perspektive nicht
bestätigt. |... Man muß also glauben, daß die
Jüdische Nation für viele Jahre bestehen
wird. Keine Nation kann in normaler Weise
ohne ein Territorium leben, das sie zusam¬
menfaßt. |...] Der Sozialismus wird für [die
Migrationen] die Möglichkeit einer höheren
Technologie und Kultur entwickeln. Die ver¬
streuten Juden, die in ihrer eigenen Gesell¬
schaft zusammenleben möchten, werden un¬
ter der Sonne ein genügend großes Territo¬
rium finden. Eine nationale Topographie
wird Teil einer Planwirtschaft sein. Das ist
die große Perspektive, die ich sehe."

Daß noch heute aus den Studien ein gewisses
Befremden den deutschsprachigen Ankömm¬
lingen gegenüber spricht, hat hauptsächlich
zwei Gründe: Aus ihrer Gruppe sind keine
Historiker hervorgegangen, die sich in Mexiko
spezifisch mit der Geschichte der jüdischen
Einwanderung befassen, so daß diejenigen Hi¬
storiker, die dieses Gebiet studieren, in den
seltensten Fällen die deutsche Sprache beherr¬
schen. Der zweite Grund ist, daß auch von den
deutschsprachigen Ankömmlingen nur wenige
Kontakt zu der sich bereits im Lande befindli¬
chen Aschkenazim-Gruppe suchten. Dafür gibt
es verschiedene Gründe, von denen ich einige
aufzeigen möchte:

Zunächst einmal lebten nicht viele deutsch¬
sprachige Juden in Mexiko. Nach einem von
Fritz Pohle zitierten Bericht waren es Anfang
der dreißiger Jahre weniger als 100.'? Unter

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den etwa 15.000 aus einer Vielzahl von Län¬

tracht, wie die Studie von Leön Sourasky an
zahlreichen Beispielen zeigt. Er spricht unter
anderem über ‚das Unverständnis zwischen
den Aschkenazim und den Sepharden, insbe¬
sondere verursacht durch die unterschiedli¬
chen Bräuche und [die] Lebensweise.“ 12
Auch benachbarte Leidensgenossen verstan¬
den sich nicht, wie z.B. die russischen Flücht¬
linge, die der Russischen Revolution ent¬
kommen wollten und auf die etwa zehn Jahre
früher nach Mexiko gelangten Einwanderer
stießen. Aus ideologischen Gründen entstan¬
den intensive Konflikte, so daß jede Gruppe
ihre eigene Organisation gründete.

führung vor. " Beide Sprachen waren den
Neueinwanderern aus Deutschland, Öster¬
reich, Ungarn und der Tschechoslowakei
nicht geläufig. Als nach langem Bemühen
endlich ein Friedhof für die Nicht-Orientali¬
schen Juden angelegt wurde, bestimmten die
Statuten von 1929, daß „die Inschriften auf
den Grabsteinen auf Spanisch oder Jiddisch
sein müßten.“ !® In keinem Moment ist zu
vergessen, daß die jiddische Sprache das Ost¬
Judentum verkörperte, auf das die Juden der
gehobenen Mittelklasse Deutschlands und
Österreichs im allgemeinen herabschauten.
Dieses Phänomen ist weitgehend bekannt
und dokumentiert, u.a. von Jakob Wasser¬
mann in seinem Band Mein Weg als Deut¬
scher und Jude’®.

Ein weiteres Hindernis für die Kontaktaufnah¬
me zu jüdischen Kreisen war das Problem der
Schule für die Kinder. Seit 1924 gab es einen
Jüdischen Kindergarten und das „‚Colegio Is¬
raclita“, jedoch seit Beginn des Unterrichts
kam es zwischen den Gründern und den Eltern
der Schüler zu keinem Konsens über die Inten¬
sität der religiösen Lehre und Praxis in der
Schule. Die deutschsprachigen Kinder hatten

wenig Kenntnis der jüdischen Religion, und ihre
Eltern wenig Interesse, daß sie diese erlangen
sollten.

Die meisten Eltern der deutschsprachigen Ein¬
wanderer legten Wert auf die Pflege der Mut¬
tersprache, doch die deutsche Sprache fand
innerhalb des Lehrplans der mexikanischen
Schulen keinen Platz. Dem Fotografen Walter
Reuter und seiner jüdischen Frau Sulamith
nahm man es übel, daß sie ihre Kinder in die
deutsche Schule schickten. Die Arztfamilie
Frenk versuchte es ebenfalls, sie war mit ihren
Kindern bereits 1930 in Mexiko eingetroffen,
doch 1933 wurde die deutsche Schule ,,ari¬
siert“, sodaß die Neuankömmlinge ihre Kin¬
der nicht weiterhin hinschicken konnten. Man
wich deshalb vornehmlich auf die amerikani¬
sche und die vorhandenen mexikanischen
Schulen aus. Soweit bekannt, besuchten die
Kinder von Anna Seghers das französische
Lyzeum in Mexiko, denn hier sollte eine euro¬
päische Kultur für die ersehnte Remigration
gepflegt werden. Die Kinder in das englisch¬
sprachige ,,Colegio Americano“ zu schicken,
hätte eine Annäherung an die nordamerikani¬
sche Lebensform und Weltsicht bedeutet, was
schon aufgrund der Parteizugehörigkeit ihrer
Eltern wenig opportun war.

Doch gerade die auf englische Sprache und
US-amerikanische Kultur ausgerichteten jüdi¬
schen Organisationen in Mexiko gewannen
zunehmend an Einfluß. Um den notleidenden
Juden in Mexiko Hilfe zu leisten, war 1924 die
„B’nai-B’rith-Loge“ aus den USA zur Hilfe
gerufen worden, welche diese Aufgabe vor¬
bildlich löste. Die Wahl der Identitätsausrich¬
tung nach Nordamerika stellte sich als förder¬
lich heraus, da die Stipendien aus dem reichen
Land im Norden Mexikos die Berufsaussich¬
ten der zweiten Generation der Exilanten er¬
höhten. Das trifft natürlich auf die Familien zu,
die nicht nach Deutschland oder Österreich
zurückkehrten — aber auch auf einige, die zu¬
rückkehrten. Bronia und Leo Katz kehrten
nach Österreich zurück, jedoch ihr Sohn, der
bedeutende Historiker Friedrich Katz, fand
seinen akademischen Standort in den USA,
ebenso wie der bekannte Soziologe Rodolfo
Stavenhagen im Wechsel mit seiner akademi¬
schen Tätigkeit in Mexiko auch oft Gastpro¬
fessor in den USA ist.

Ein weiterer trennender Faktor war die politi¬
sche Position etlicher jüdischer Exilanten aus
dem deutschen Sprachraum. Es gibt keine Sta¬
tistik über ihre Parteizugehörigkeit oder ihre
politische Ausrichtung. Tatsache ist, daß etwa
zwei Dutzend von ihnen der kommunistischen
Partei angehörten, etwa ebensoviele waren in
ihrer Vergangenheit in der Sozialdemokratie
aktiv. Einige waren durch ihre Erfahrungen in
Spanien oder ihre neue Situation in Mexiko
nicht mehr politisch aktiv oder sympathisier¬
ten mit Splittergruppen, die ihren Überzeugun¬
gen entsprachen. Einige wären auch sehr treue
Deutsche geblieben, wenn Hitler sie nicht be¬
droht und verfolgt hätte. Diese Auffächerung
ist stark individuell ausgeprägt. Außer den Par¬
teimitgliedern hatten die wenigsten feste Pläne
für die Zeit nach dem Krieg. Doch genau diese