hervorbringen, so wie auf dem Boden der fran¬
zösischen Revolution die ‘Zauberflöte’ und die
‘Neunte Symphonie’ gewachsen sind. Doch
gibt es kaum einen jungen Komponisten, der
von Schönberg nicht eines gelernt hat: Mut und
technisches Rüstzeug, um die Wirklichkeit mit
den ihr entsprechenden Mitteln, wenn es sein
muß mit revolutionären Mitteln, auszudrük¬
ken.
So wundert es nicht, daß Marcel Rubin in Bela
Bartöks Musik einen Ausweg aus der Schön¬
bergschen Vereinsamung sah:
In seinen eigenen Kompositionen stellte sich
Bartök eine Aufgabe, die ich für die wesent¬
liche des modernen Tonsetzers halte: nicht
Volksmusik zu benützen, sondern Volksmusik
zu schaffen. [...] So wurde Bartök als Reprä¬
sentant seines Volkes zur großen Persönlich¬
keit. Gerade deswegen war aber der Wider¬
stand, den er in seiner Heimat fand, zunächst
sehr groß. Denn dort bestimmte noch nicht
das Volk. Und selbst ein Volk, das in langer
Unterdrückung zu einer ihm fremden Denk¬
art erzogen wurde, braucht Zeit und Schu¬
lung, um einen Künstler, der des Volkes wah¬
re Sprache spricht, zu verstehen.
Marcel Rubins Musik-Verständnis schließt
also die Moderne in gewisser Hinsicht durch¬
aus ein: Voraussetzung dafür istein bestimm¬
tes Verhältnis zum Publikum, das Rubin mit
den Begriffen von Volk und Volkstümlich¬
keit eher ideologisiert, als klarstellt — ein
Verhältnis das er an der französischen Mo¬
derne so schätzt, und bei der Zweiten Wiener
Schule so sehr vermißt. Tatsächlich hatte sich
Rubin bereits in frühen Jahren in der Frage
der musikalischen Ausbildung für Paris und
Milhaud und gegen Berlin und Schönberg
entschieden. Es verwundert darum nicht, daß
Rubin vom Standpunkt der Moderne aus
auch das „‚Concierto Romäntico“ der jungen
Ruth Schönthal kritisiert, das 1946 in Mexiko
(unter der Leitung von José Rocabruna und
mit der Komponistin am Klavier) aufgeführt
wurde. Bereits ein Jahr davor hatte Ernst
Römer das Werk ebenfalls mit der Komponi¬
stin als Solistin für den mexikanischen Rund¬
funksender XEW dirigiert. Es war dies das
erste Orchesterwerk der 1924 in Hamburg
geborenen Komponistin, die in Berlin am
Sternschen Konservatorium studiert hatte
und mit ihren Eltern 1938 nach Stockholm
emigrierte, wo sie ihr Studium fortsetzte. Als
es dort auch nicht mehr sicher war, ging die
Familie schließlich nach Mexiko, und Ruth
Schönthal nahm hier Unterricht bei dem me¬
xikanischen Komponisten Manuel M. Ponce.
Marcel Rubins Kritik des Klavierkonzerts
diirfte auf einen wirklichen Mangel in
Schönthals Ausbildung hingewiesen haben:
tatsächlich hatte die Komponistin bis dahin
kaum Gelegenheit, sich mit der musikali¬
schen Moderne auseinanderzusetzen. In spä¬
teren Jahren konnte sie dies in den USA
schließlich nachholen.” Primavera Gruber
und dem Orpheus Trust ist es übrigens zu
danken, daß die Komponistin im Oktober
1995 nach Wien zur Aufführung eines ihrer
Werke nach Wien eingeladen wurde.
Rubin begann 1946 seine Besprechung von
Schönthals ‚‚Concierto Romäntico“ mit der
Feststellung, ‚‚daß der Anteil der Frauen an
der musikalischen Komposition im Verhält¬
nis zu ihren Verdiensten an Dichtung und
Malerei sehr gering ist"? — so zählt ja auch
Ruth Schönthal zu den ganz wenigen Kom¬
ponistinnen des Exils. Rubin heftet an diese
Erkenntnis allerlei Spekulationen über die
Ursachen dieses Umstands und versucht ihn
aus der Besonderheit kompositorischer Ar¬
beit zu erklären - schließt aber diese Überle¬
gungen immerhin mit der Aussicht ab, daß
die „wachsende Emanzipation“ der Frauen
„auch hierin Wandlung schaffen“ könne.
Sodann wendet er sich der Komposition
Ruth Schönthals zu und würdigt zunächst die
Vorzüge des Werks: „Das Concierto Ro¬
mäntico hat das Publikum gewonnen. Ein
natürliches Singen geht durch alle Sätze. Die
Harmonik ist gekonnt und einwandfrei. Be¬
merkenswert ist die Formsicherheit der
Komponistin [...]‘“ Doch beklagt Rubin auch
die Konventionalität der Partitur, indem er
als älterer Kollege oder fast wie ein wohl¬
meinender Lehrer hinzufügt:
Zu erwerben bleibt der jungen Künstlerin
noch etwas Wesentliches: kein bedeutender
Künstler hat sich je außerhalb seiner Zeit
gestellt. Haydn, Mozart, Schubert, sie alle
waren modern bis in die Fingerspitzen, sie
alle haben die großen Werke ihrer Zeitge¬
nossen und Vorgänger studiert, um das Beste
von ihnen zu lernen und darauf weiterzubau¬
en. Ein gründliches Studium der Komposi¬
tion von Mahler bis Strawinsky und Schön¬
berg würde Ruth Schönthal unserem Jahr¬
hundert näher bringen, ohne ihre träumeri¬
sche Eigenart zu gefährden. Denn sie ist ein
ernstes musikalisches Talent, das jede Tör¬
derung verdient und einer schönen Entwick¬
lung fähig ist”
Damit hat Rubin auch die Spannbreite ange¬
deutet, die er mit seinen eigenen Komposi¬
tionen zu erreichen versuchte. Aus Oster¬
reich hatte er seine zweite Symphonie, die
den allgemeinen Titel ,,Erde“ tragt, mitge¬
bracht; sie wurde im Marz 1946 vom Sym¬
phonieorchester der Universität im Palacio
de Bellas Artes uraufgeführt. Auch das Tanz¬
stück, das bereits 1933 uraufgeführt worden
war, konnte in Mexiko erneut gespielt wer¬
den. In Mexiko selbst komponierte er seine
vierte Symphonie (die dritte war auf der er¬
sten Station des Exils in Paris entstanden).
Rubin suchte also die große Form: er wollte
an die symphonische Tradition Österreichs —
an Bruckner und Mahler — anknüpfen; Paral¬
lelen ergeben sich dabei vor allem auch zur
Entwicklung der sowjetischen Musik, insbe¬
sondere zum Schaffen von Schostakowitsch;
so erinnert die vierte Symphonie von Rubin
durchaus in gewisser Hinsicht an die Sieben¬
te von Schostakowitsch. Der ursprüngliche
Titel der Symphonie lautete „Krieg und Frie¬
den“ — gemeint war jedoch nicht eine Ton¬
dichtung über Tolstoi, sondern das Erlebnis
des Zweiten Weltkriegs. Dem ersten Satz
sind als Motto vier Strophen aus Bertolt
Brechts „‚Kinderkreuzzug 1939“ vorange¬
stellt. Die beiden ersten Sätze haben das
Grauen des Krieges zum Thema, die zwei
weiteren den Frieden. Das Werk schließt mit
einer jubelnden Fuge. Später sollte er die
beiden letzten, positiven Sätze verwerfen
und ein neues, verhaltenes Pastorale als Ab¬
schluß des Werks setzen - ähnlich wie Hanns
Eisler nach 1945 seine Deutsche Symphonie
mit einem Trauer artikulierenden Epilog aus¬
klingen ließ, während er noch vor 1945 in
einem Gespräch mit Brecht als Finale der
Symphonie eine ,,groBe Siegesmusik“ ange¬
kündigt hatte, ‚wenn die deutschen Arbeiter
Hitler selbst vertreiben würden"!?.
Diese Musik ist mit dem inkriminierten Ter¬
minus vom Sozialistischen Realismus nicht
gut zu begreifen. Sie war eben nicht eigent¬
lich realistisch — im Gegenteil; auszugehen
wäre wohl eher vom fragwürdigen Ende der
Symphonien. Charakteristisch ist hier die
Wendung ins Positive, worin die negativen
Momente der Moderne aufgehoben werden
sollten: die Stabilisierung der Tonalität, die
von Schönberg aufgelöst worden war; die
Reetablierung des Marschrhythmus, den
Strawinsky parodierte; die Zurücknahme der
Verfremdung, in die Tonalität und Marsch
etwa bei Mahler oder Weill gesetzt waren. Es
ist kein Zufall, daß Rubin in seinem großen
Artikel über ‚Gustav Mahlers musikalische
Rolle“ die ‘negativen’ Symphonien (5, 6,
und 7) nur als eine Art Übergang zur Achten
sieht, die das Ende von „Faust II“ vertont;
und wie er über die Abgründe der Dritten
hinweggeht — ja marschiert: ,,[...] im gewal¬
tigen Marsch der 3. Symphonie, die den Ein¬
zug des Frühlings und den Sieg des Lebens
über den Tod in der Natur zum Gegenstand
hat“, drücke Malıler „die zukunftssichere
Geschlossenheit eines Maiaufmarsches der
Arbeiter aus."
Mahler gehörte überhaupt zu den bevozugten
Komponisten des mexikanischen Exils - als