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Bruno Frei

Nur mit Befangenheit ging ich daran, aus einem
äußeren Anlaß und nachdrücklich aufgefordert,
über Anna Seghers zu schreiben. Nie noch hatte
die Befürchtung, jadie Gewißheit, es wird nichts
Vernünftiges dabei herauskommen, sich so
hemmend dem Bemühen entgegengestellt, Ge¬
danken und Gefühle in Worte zu kleiden. Diese
Ahnung der Unzulänglichkeit war gewiß ein
Warnungssignalund es wäre wahrscheinlich am
Besten gewesen, hätte ich es bei einem Geburts¬
taggruß von Freund zu Freund bewenden lassen.
Für die Schriftstellerin sprechen die Werke, von
dem Menschen und Kameraden weiß ich, daß
er den Marktplatz der Eitelkeiten scheut. Mich
der Aufgabe zu entziehen, schien eine ehrenhaf¬
te Lösung, keineswegs eine Ausrede.

Dann begann ich, einer alten Gewohnheit fol¬
gend, diese Hemmung zu zergliedern. Welcher
Art ist diese Befangenheit? Du kennst einen
bedeutenden Menschen, eine vielgelesene
Schriftstellerin, näher als viele andere. Ist das
Verlangen nicht berechtigt, das Wissen um den
Menschen jenen zu vermitteln, die nur die be¬
rühmte Romanautorin kennen? Jetzterst wurde
mir die Schwierigkeit der Aufgabe bewußt.
Denn Anna Seghers besteht nicht aus zwei
Teilen, die man fein säuberlich auseinanderhal¬
ten und einen nach dem andern beschreiben
kann: Hier ist der Schriftsteller und hier der
Mensch. Sie ist aus einem Guß — und was für
einem! Ein Naturphänomen, wie die Quelle, die
aus dem Erdreich ans Licht drängt, einfach und
rätselhaft zugleich. Wenn man mit dieser Frau
spricht, steht man in einem Zauberkreis; sie
allein kennt das magische Wort, das den Zauber
bannt. Ihre Gedanken folgen einem nur ihr
bekannten Verknüpfungssystem, von dem sich
bald herausstellt, daß es rascher zum Wesen der
Dinge vorstößt, als deine arme Logik.

Denn Anna Seghers, wie jeder Dichter, ge¬
braucht die Sprache nicht allein zur Vermitt¬
lung vollbewußter Begriffe, sondern auch um
Dinge anklingen zu lassen, die in der Tiefe
verborgen sind, die jeder kennt, die aber unaus¬
gesprochen bleiben, weil die Worte abgenutzt
sind und ohne den Glanz, der an den Dingen
selbst haftet. Es sind die wichtigsten Dinge, wie
Mutterliebe, Freündschaft, Treue, Standhaftig¬
keit, Volk, Heimat. Anna Seghers versteht es,
solchen Worten einen neuen Wert zu verleihen,
ihnen wieder Erlebnisinhalt zu geben. Das kann
sie, weil sie selbst, als privater Mensch, nie
aufgehört hat, in der Welt dieser menschlichen
Urbegriffe zu leben. ,, Was Hitler auch alles mit
dem Wort ‘Mutter’ gemacht hat“, schrieb Anna
Seghers mitten iri Krieg, ,,an wie vielen Mut¬
tertagen, durch wieviel Mutterkreuze die deut¬
sche Frau gepriesen wurde, dem niedertrichtig¬
sten Krieg Söhne geboren zu haben, der echte
Begriff ‘Mutter’ hat deshalb nie ausgelöscht
werden können, weil er zu den Begriffen ge¬
hört, die jeder Mensch, jede Minute, durch
eigene Erfahrung erneuert.“

Ich habe Anna Seghers erst in der Emigration
kennengelernt. Jeden Montagabend in einem
kleinen rauchigen Pariser Cafe trafen wir uns,
Mitglieder und Freunde des Schutzverbandes
Deutscher Schriftsteller. Wenn Anna Seghers
sprach, sei es über ihre rheinische Heimat, sei
es über das tragische Ende des Dichters Rein¬
hold Lenz, sei es über den Schriftstellerkongreß
im belagerten Madrid, war es schwer, in ihrem
Vortrag das Private vom Öffentlichen zu tren¬
nen. Immer beglückte und quälte mich zugleich
die unentwirrbare Einheit einer oft allzu
menschlich persönlich bezogenen Politik und
einer durch und durch politischen Persönlich¬
keit. |

Draußen in Bellevue, dem gartenreichen Vorort
von Paris, war die Mischung nicht minder reiz¬
voll: Kunst und Küche, in Anna wurde auch
dieser Kontrast harmonisch aufgelöst. Chinesi¬
sche Bildtafeln und ungarisches Reisfleisch ge¬
hörten der gleichen Wirklichkeit an. Diese
Dichterin ist nämlich das Gegenteil von dem,
was man „‚Intellektuell“ nennt. ‚Das Leben soll
gelebt, nicht diskutiert werden“ — eine Lebens¬
weisheit, geschöpft aus den Gesprächen von
Bellevue, wurde zum geflügelten Wort in mei¬
ner Familie. Diese dem Leben so tief verbunde¬
ne Dichterin hat letzten Endes ihr ganzes Werk
darauf gestellt, die Menschen zu den einfachen
Grundtatsachen des Lebens hinzuführen. Wer
einmal die Episode gelesen hat, wie ein junges
Paar, aneinandergeschmiegt, geborgen unter
dem schirmenden Wagendach, durch die unbe¬
kannten Gefahren des nächtlichen Waldes fährt,
weiß für ewige Zeiten, was Heim heißt und
Familie.

Als die Stunde der Prüfung kam, war Anna
Seghers das Vorbild. Ich bewahre einen Brief
auf, der auf eine Museums-Vitrine wartet. Aus
der von den Hitlertruppen besetzten Stadt Paris,

wo die deutsche Antifaschistin mit ihren Kin¬
dern sich nach mißglückter Flucht verbergen
mußte, schreibt sie (in einem durch gotische
Kurrentlettern optisch entstellten Französisch)
dem um seine ausgebombten Kinder bangen¬
den Internierten von Vernet Trostworte: ,,Je
regrette infiniment de ne pas avoir un chezmoi
ou je pourrais garder Vos enfants, ma propre
situation est assez difficile’ (Ich bedaure, kein
Heim zu haben, wo ich Ihre Kinder bewahren
könnte, meine eigene Situation ist ziemlich
schwierig). Die Sprache ist die Sprache der
Konspiration mit ihrer erborgten Kühle und
Fremdheit, aber der Inhalt ist ein Denkmal der
Kameradschaft und der Menschlichkeit.

Dann, nachdem es gelungen war, die deutschen
Behörden zu täuschen, und die Demarkations¬
linie, die Frankreich in zwei Teile zerriß, mit
Hilfe französischer Freunde zu überqueren,
kam Anna Seghers in das Internierungslager
von Vernet. Dort warihr Mann, dort waren ihre
Freunde. Man rief uns in die Besuchsbaracke,
und wir fühlten sofort, daß sie ihren Zauberkreis
mitgebracht hatte; denn es strahlte von ihr aus,
was uns am meisten nottat: wärmende Freund¬
schaft.

Der Schauplatz der Emigration wechselte, Um¬
welt und Sprache wurden anders, der Krieg
stellte alle vor neue Aufgaben — aber Anna
Seghers verließ nicht die ihr eingeborene Weg¬
richtung. Es gibt Schriftsteller, die den drängen¬
den Aufgaben des Tages erliegen. Für diese
Frau aber sind Leben und Dichten nicht vonein¬
ander getrennte oder trennbare Sphären. Politik
ist nicht eine Beschäftigung neben der Kunst.
Die Kunst selbst ist Politik, nur so kann der
Künstler politisch wirken. In einem Aufsatz
über die „Aufgaben der Kunst“ (,,Freies
Deutschland“, Mexiko, November 1944) ent¬
wickelt Anna Seghers ihre Kunstphilosopie.

Kampf, der die Welt in Atem hält? Welche
Rolle wird sie morgen haben, wenn der Kampf
mit den Waffen zwar entschieden sein wird, der
Kampf von Verstand zu Verstand, von Geist zu

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