OCR Output

dann preßte. Alles inmitten dieses starken, sü߬
lichen Geruchs, der dem Tabak so eigen ist. Das
Geräusch der Blätter in den Händen der Arbei¬
ter, nur Frauen und Kinder. Das sanfte Gemur¬
mel. Das Surren eines Motors, von irgendwo in
der Nähe.

Das Faszinierendste war immer noch, wenn
El Flaco nachdenklich wurde und ernsthaft
anfing zu erzählen. Dann begannen seine
Augen eigentümlich zu strahlen, seine Stim¬
me wurde tiefer, und er sprach langsamer. So
hörte ich ihn die Tabakfabrik beschreiben,
wie sie zu der Zeit aussah, als er noch ein
Knirps war und die getrockneten Tabakblät¬
terbündel aus der Räucherkammer holen
mußte. Er sagte, daß ‚ihm dieser Job tierisch
auf den Sack ging“, denn so konnte er nicht
ohne Unterbrechung den Erzählungen von
Don Pläcido folgen, der zu jener Zeit der
Vorleser war. Der ,,Herr Vorleser“.

Es fiel einem wirklich nicht schwer, sich den
alten Don Pläcido vorzustellen, mit Würde an
einem prominenten Platz sitzend, in Guaya¬
bera-Hemd und Hose aus weißem Leinen,
den veracruzanischen Strohhut keck auf dem
Kopf und um den Hals ein rotes Tuch. Wie
er sorgfältig die Brille putzte, um sich voll¬
kommene Aufmerksamkeit zu sichern.
Wenn nur noch die Hühner gackerten und die
Tabakblatter raschelten, würde er mit seiner
Lektüre fortfahren. Und die Arbeiter würden
erneut wie gebannt die Abenteuer Robinson
Crusoes, Ali Babas oder Don Quijotes erle¬
ben. Ja, dem Don Pläcido gelang das Kunst¬
stück, daß sich diese Zuhörer mit Dulcinea
del Tobosco oder David Copperfield identi¬
fizierten. Er ließ die kleinen Mädchen von
einem in den Bergen verirrten Schneewitt¬
chen träumen, wo sicher tödliche Neuyaca¬
und Korallenschlangen lauerten. Als der
Graf von Monte Christo ins Meer geworfen
wurde, stellte man sich bestimmt vor, wie er
von Haien und Barracudas bedroht wurde.
Heidis Großvater war sicher in Gestalt eines
der alten, zerlumpten Schäfer vor ihnen er¬
schienen, wie sie in jener Gegend herumlau¬
fen. Und ich bin absolut sicher, daß, wenn
Aschenputtel mit ihrem Prinzen tanzte, in
vielen kleinen Köpfchen eine heitere ver¬
acruzanische Melodie erklang.

Der Alte bemächtigte sich wahrhaft der Hel¬
den der Romane. Bei bestimmten Abschnit¬
ten in „Die Elenden“ wurde er wortkarg,
rasierte sich nicht und aß auch kaum. Und als
D’Artagnan an der Reihe war, mit seinen
Künsten und Tricks gegen die Häscher des
Kardinals, sah man den verflixten Don Plä¬
cido - jedenfalls erzählte El Flaco es so - auf
dem Heimweg mit einem Stock Gräser und
Gebüsch enthaupten.

Wenn Don Pläcido — der aus dem naheliegen¬
den Alvarado* stammte — zwischen ein paar
Bierchen das Buch ignorierte und auf seine
ganz eigene Art weitererzählte, war es wirlich
ein Ereignis: „Dann fragte die verfluchte Stief¬

* Eine kleine Hafenstadt, deren Bewohner für ihre
vulgäre Sprechweise berüchtigt sind.

mutter den Scheißspiegel: ‚‚Spieglein, Spieg¬
lein an der Wand, wer ist die geilste Frau in
diesem Land?“

In der Regenzeit werden alle Wege der Gegend
zu Bächen, die oft anschwellen und zu wüten¬
den Vandalen werden. Sie waschen die Berg¬
hänge ab, reißen Hütten, Schweine, Hühner mit
sich fort und ertränken alles in den schlammigen
Gewässern des Catemaco-Sees. Zu solchen
Zeiten drängte man sich noch enger an Don
Pläcido und hörte, bei dem hämmernden Ge¬
räusch des Regens auf dem Wellblechdach, von
Dante und seiner Hölle.

Viele Jahre hindurch lebten die großen Klas¬
siker in jener Tabakfabrik. Die Arbeiter hör¬
ten während langer Stunden Geschichten aus
einer Welt, die sie sönst nie kennengelernt
hätten. Und am Ende eines Arbeitstages, am
späten Nachmittag, scharten sie sich um den
Alten, um ihn mit Fragen regelrecht zu bom¬
bardieren, während sie ihn über die schlam¬
migen und schon im Schatten liegenden Pfa¬
de begleiteten.

Aber dann wurde modernisiert. Nichts, was die
Maschinen der Fabrik betraf, denn das waren
und sind noch immer die flinken Hände der
Arbeiter, sondern dadurch, daß der letzte der
Vorleser, Don Pläcido, durch ein Radio ersetzt
wurde. Durch ein verfluchtes Mistradio, wie El
Flaco es nannte.

Dies geschah genau zu der Zeit, als er den
„, Todeskutscher“ von Selma Lagerlöf zu Ende
vorgelesen hatte. Das Schlimme war außerdem,
daß sich niemand ein Herz fassen konnte, um es
ihm vorher zu sagen. Als er am nächsten Mor¬
gen mit einem neuen Buch erschien, plärrte das
Radio in voller Lautstärke irgendeine blöde Ra¬
dioserie in den Raum.

Er wurde krank. Keiner wußte, was er hatte.
Man hatte ihn bald vergessen, und die Nutz¬

losigkeit seiner Existenz begann ihn aufzu¬
zehren. Man sagte, daß er den Tod immer
um sich herum zu sehen glaubte: auf einem
Esel sitzend, ihm im Gebüsch auflauernd
oder ihn aus Löchern zwischen den Lehm¬
ziegeln beobachtend. Aber fast immer er¬
schien er auf einer Kutsche, ihn aus den
Falten seiner Kapuze angrinsend — wie in
dem Roman.

Eines Tages begegnete ihm der Tod als Arzt
der Sozialversicherung verkleidet, und da gab
es keinen Ausweg mehr.

So muß es gewesen sein. So erzählte es El
Flaco.

Manchmal erzählte er auch davon, wie der
Tabak, wegen einer Epidemie auf einer Kari¬
bikinsel, nach Mexiko kam, und wie man die
gesunden Pflanzen in jene Region brachte, um
die Art zu retten.

Und dann dachte ich, daß es wirklich höchste
Zeit war, das wenige, was die Epidemie der
Modernisierung noch verschont hat, ebenfalls
zu verpflanzen.

An einen anderen Ort.-Weit weg. In dasretten¬
de Exil.

Ja, auf eine Insel mit Scherenschleifern, StraB¬
enverkäufern, Vogelhändlern, Leierkasten¬
männern, Erzählern...

Und einem Vorleser.

Bruno Schwebel, geboren 1928 in Wien,
flüchtete mit den Eltern 1938 Frankreich,
1941 nach Portugal und kam 1942 nach
Mexiko. 1942-44 studierte er Buchgraphik
an der Escuela de Artes del Libro (Schule
der Buchkunst), 1947-50 besuchte er die
Technische Hochschule in Mexico D.F.
Dipl.Ing. Elektronik. Seit 1950 im Hauptbe¬
ruf Fernsehtechniker. 1958 erste Ausstel¬
lung eigener graphischer Arbeiten. 1959
Schachmeister von Mexico D.F. Schwebel
begann in den 70er Jahren zu schreiben;
Veröffentlichung zahlreicher Kurzge¬
schichten in spanischer Sprache, die er
selbst auch ins Deutsche übertrug. Zweimal
erhielt er von der Tageszeitung El Nacional
den 1. Preis für die „Kurzgeschichte der
Woche“. Seit 1971 Mitwirkung an der eng¬
lischsprachigen Theatergruppe Theater
Workshop. 1981 erfolgreicher Auftritt als
Schauspieler in Edinburgh (GB) in dem
Einpersonenstück ‚Madman’s Diary“
nach der Erzählung ‚Aufzeichnungen eines
Wahnsinnigen“ von Nikolai Gogol. Als
Schauspieler in zahlreichen Film- und
Fernsehrollen engagiert, vor allem in Kri¬
minalstücken und Fernsehserien. Daneben
seit 1983 Ziehharmonika-Spieler einer
Folklore-Gruppe. B.Sch. lebt in Mexico,
D.F. Werke: Tirapiedras (Kurzgeschichten,
1976); Estimado Yo (Kurzgeschichten,
1979); La Gordis y Otros Cuentos (Kurzge¬
schichten, 1992). —,,Der Herr Vorleser“ ist
dem Kurzgeschichtenband ‚Mexiko per¬
sönlich“ (noch unveröffentlicht) entnom¬
men.

57