Als 1971 Ingeborg Bachmanns Roman ,,Mali¬
na“ erschien, wurde er vor allem von den männ¬
lichen Rezensenten aufs heftigste kritisiert. Die
meisten Kritiker kamen über eine ‚‚Innerlich¬
keits"-Interpretation nicht hinaus, stuften den
Text als „‚privat/subjektiv“ ein und unterstell¬
ten der Autorin die Abwesenheit alles Politi¬
schen, Weltverändernden. Für die „‚Geschichte
einer schönen Seele“ — so lautete Helmut Hei߬
enbüttels vernichtendes Urteil über den Roman
— begann sich schon ein halbes Jahrzehnt später
die Frauenbewegung zu interessieren; die Di¬
chotomie „privat/politisch“ wurde - zumindest
in feministischen Kreisen — aufgehoben, der
anfangs formulierte Vorwurf formaler Schwä¬
che revidiert.
Hertha Kräftner, Jahrgang 1928 und damit nur
zwei Jahre jünger als Bachmann, hat bereits zu
Lebzeiten für ihre spärliche Prosa ähnliche
Vorwürfe einstecken müssen. Wenige Monate
vor ihrem Tod schrieb sie an Herbert Eisen¬
reich: „Der Vorwurf, daß mein Paris ein See¬
lenbild sei, ist keiner, und es werden sich nur
jene Teufel über kurz oder lang nicht mehr
dafür interessieren, die nicht von meinem Ty¬
pus sind ... Jedes Seelenbild ist auch ein Welt¬
bild. Selbst das realistischste Weltbild ist ein
Seelenbild.“
Diese subjektive Wirklichkeitsauffassung — da¬
mals noch ein Phänomen der Wiener Lyrischen
Schule von 1950 - wurde in den 70er Jahren zum
konstituierenden Element vorwiegend weiblicher
Prosa. Kräftner, die 23jährig Selbstmord beging,
war in dieser Zeit nicht mehr am Leben. Sie hatte
— 20 Jahre vorher - in ihrer konsequent subjekti¬
ven Darstellung der erlebten Gegenwart jenes
Poetikkonzept bereits vorweggenommen.
Die Autorin gehörte mit Ingeborg Bachmann und
Jeannie Ebner zu den größten literarischen Hoff¬
nungen des Nachkriegs-Österreich, und sie wurde
zur bewußten Zeugin des Zweiten Weltkrieges,
ohne sich jedoch explizit mit dem Dritten Reich
und seinen Folgen zu beschäftigen.
Ihr Vater, ein Kaufmann aus Mattersburg im
Burgenland, schloß sich in der Zwischenkriegs¬
zeit der politischen Linken an; die Mutter
stammte aus einer alteingesessenen Wiener Fa¬
milie. 1937 verließen die Kräftners Wien, den
Geburtsort der Schriftstellerin, und zogen nach
Mattersburg, wo Hertha Kräftner ihre Pflicht¬
schuljahre absolvierte. Man sagt von ihr, sie sei
eine ausgezeichnete Schülerin gewesen, habe
bereits im Alter von zehn Jahren ,, voll Bewun¬
derung“ die großen Klassiker gelesen.
Die letzten Kriegsmonate und die erste Zeit der
Besatzung gingen nicht spurlos an ihr vorbei.
Im April 1945 drang ein Quartier suchender
Offizier der Roten Armee in die Mattersburger
Wohnung ein. Er bedrängte die im Haus anwe¬
senden Frauen, darunter auch die damals 17jäh¬
rige Hertha Kräftner und provozierte ein Hand¬
gemenge, bei dem durch einen sich lösenden
Schuß eine Frau ums Leben kam. Der Vater
erlag fünf Monate später den Verletzungen, die
er sich während der nachfolgenden Auseinan¬
dersetzung zugezogen hatte. Der Vorfall hatte
— wie die Wiener Schriftstellerin Elfriede Gerstl
in einem Essay anmerkt - für Kräftner trauma¬
tische Folgen und sollte, da er bisher von den
meisten Biographen unbeachtet geblieben ist,
nicht übergangen werden.
Wie viele andere schrieb Kräftner voll Senti¬
mentalität in der Gymnasialzeit erste epigonen¬
hafte Gedichte ,,... Und das heißt Mädchen
sein: / den Mond zu lieben und dariiber zu
weinen ..."; diese kitschig anmutende Herz¬
Schmerz-Lyrik mit ihren romantischen Stim¬
mungen wird aber schon bald von Prosatexten
abgelöst, die - wie z.B. „Der Kopf“ - surreali¬
stische Elemente enthalten.
Nach ihrer Matura inskribierte Kräftner in
Wien die Fächer Germanistik, Geschichte,
Psychologie und lebte für die Zeit ihres Stu¬
diums in kleinbürgerlichen Verhältnissen bei
ihrer Tante und Großmutter. Die ‚‚unmensch¬
lichen Umstände“ des kleinkarierten Wien
der späten 40er und frühen 50er Jahre kom¬
men im Prosatext ‚Das Liebespaar“ am deut¬
lichsten zum Ausdruck: ‚‚Nach einigen Wo¬
chen voll Verzweiflung und ergebnisloser
Versuche, eine Abhilfe zu schaffen, fanden
sie sich in das Los, ihr Leben auf Treppensät¬
zen, fremden Gängen, Hausfluren, Warte¬
zimmern, Gartenbänken zu verbringen.“ In
dieser Erzählung, die sie knapp zwei Wochen
vor ihrem Tod fertiggestellt hat, treten Lie¬
besimagination und erlebte Liebe nicht mehr
so stark auseinander wie in ihren früheren
Texten. Die weibliche Figur flüchtet, nach¬
dem ihr Liebhaber an einer Lungenentzün¬
dung verstorben ist, in gesicherte Verhältnis¬
se, ein Schluß, der für Kräftner, die die Liebe
absolut setzt, eher untypisch ist.
Sie selbst lernte im Frühjahr 1947 einen Biblio¬
thekar kennen, den sie in ihren Tagebuchaufzeich¬
nungen ,,Anatol“ nennt. Bei ihm ist sie ,,ganz
wirklich“, er ist „jenseits (ihrer) Phantasien“,
dennoch verzeiht sie ihm so wenig wie den ande¬
ren die Unfähigkeit zur Verwirklichung des My¬
steriums Liebe: „‚Ich wollte dich imimer bitten, mir
deirie Flügel zu leihen, aber ich vergaß, daß du
deirie verlorst, als ich dich vom Himmel holte.“
Zeitlebens hing sie einem Idealbild von Liebe
nach, dessen Realisierung aufgrund der bestehen¬
den Diskrepanz zwischen weiblichen Sehnsüch¬
ten ünd Empfindungen und männlichen Verhal¬
tensweisen nicht méglich war. Auf der Suche nach
dem ,,anderen Zustand“, der wortlosen Uberein¬
stimmung, verstrickte sie sich in zahllose Lieb¬
schaften, aus denen sie enttäuscht und voller
Angst- und Schuldgefühle hervorging. Von
„Anatol“ kam sie trotz mehrmaliger Trennungs¬
versuche bis zur Schluß nicht los. In einer Tage¬
bucheintragung vom November 1948 steht:
„Bleiben oder gehen, beides heißt leiden. Sterben!
Da könnte er nicht mit.“
In jenem Winter wurde erstmals ein Gedicht
von ihr veröffentlicht. Sowohl Ingeborg Bach¬
mann als auch Hertha Kräftner begannen ihre
literarische Laufbahn in der von Hermann Ha¬
kel herausgegebenen Zeitschrift Lynkeus. Um
Hakel, Otto Basil und Hans Weigel bildete sich
ein Kreis junger Autoren, die zwar einerseits
durch konsequent antifaschistische und innova¬
torische Texte aneckten, andererseits aber nicht
die Beachtung fanden, die sie sich wünschten.
Schreibende Frauen hatten in jener Zeit noch
Seltenheitswert, und auch die Literaturkritik
war nicht frei von Frauenverachtung.
Nach einer Norwegenreise mit ,,Anatol“ be¬
gann Kräftner im Oktober 1949 mit einer Dis¬
sertation tiber ,, Die Stilprinzipien des Surrealis¬
mus, nachgewiesen an Franz Kafka“. Im Zuge
ihrer Auseinandersetzung mit Kafka entstand
einer ihrer schönsten Texte, ‚‚Gemäß ihrer Ver¬
abredung“. Von der Liebe konnte sie nicht
lassen, weder im Leben noch in ihren Texten.
Als sie sich Anfang 1950 in einen älteren Mann
namens Gabriel verliebte, erschrieb sie sich ihn
neu: „Worte geben dir tausend Gestalten.“
Über die Sprache rückte sie ihren Wünschen
näher, vor ihrer Verwirklichung schreckte sie
auch dieses Mal zurück; denn hätte sie sich
ihren „Engel“ auf die Erde geholt, wäre er
Mensch und Mann geworden.
In diesem Tagebuch einer Liebesbeziehung sind
einige Prosafassungen von Gedichten enthalten,
welche aufdie Arbeitsweise der Autorin schließen
lassen. Ihre Lyrik ist kein Labor-Konstrukt, son¬
dern beruht auf bestimmten äußeren Reizen, und
starken inneren Emotionen. Indem Leben und
Schriften intensiv miteinander verbunden sind,
können sie als besondere Zeitdokumente gelesen
werden. In dieser Hinsicht ist die neue, beim
Wieser- Verlag erschienene Ausgabe, die die alten
Ausgaben von 1977 und 1981 um bisher unver¬
öffentlichtes Nachlaßmaterial ergänzt, eine große
Bereicherung. Die Herausgeber, Gerhard Alt¬
mann und Max Blaeulich, haben das Gesamtwerk
chronologisch geordnet und damit Gerald Bisin¬
gers Theorie vom ,,posthumen Roman Hertha
Kréfiner“ unterstrichen. Bisinger deutete bereits
1963 daraufhin, daß Kräftners Werk ganzheitlich
zu betrachten sei, ,,als Roman ..., der ... formal
erstmalig ist und vermutlich einmalig bleiben
wird.“ Die „Notizen zu einem Roman in Ich¬
Form“ ‚ in dem sich Kräftner eindeutig selbst zum
Objekt ihrer Literatur macht, legen ebenfalls eine
Interpretation auf der Basis einer ,,exzessiv ge¬
nauen ihtrospektiven Reportage“ nahe.
Große Teile des Kräftnerschen Werkes sind ein
Spiegelbild des Gesellschaftssysteris der 50er
Jahre, Der traditionelle Entwurf der Frau als
Liebende/Gebende und Liebesobjekt wird von
Reflexion und Bewußtsein durchquert. Kräft¬
ner dekomponierte den Weiblichkeitsmythos,
indem sie mehrere Beziehungen lebte und ex¬
plizit formulierte: „Ich will niemals ein Kind
haben.“
Ihre fortwährende Konversation mit dem Tod
brach äüch nach einem glücklichen Paris-Auf¬
enthalt im August 1950 nicht ab. Ein halbes Jahr
später verfaßte sie in einem „sehr schlechten
Gemütszustand“ ihr Vermächtnis „Wenn ich
mich getötet haben werde“. Nüchtern und lako¬