Tief in den Körper von Schwaz führt ein Gang bis zu einem
Organ, in dem wurde für Deutschland gestorben, das hat funktio¬
niert, wie Organe das tun, war gefräßig und fraß und wurde mit
Menschen gefüttert, die dort arbeiten durften, die hat man gehabt.
Beim Bahnhof, Baracken, dort hat man die Russen gehabt.
Vom Lager zu Fuß jeden Tag in Kolonnen zum Stollen, keiner
hat sie gesehen, vom Lager zu Fuß an den Häusern vorbei bis zum
Berg und von dort in den Stollen hinein jeden Tag, in den Körper
von Schwaz, den Geleisen entlang, den Wänden entlang, denn die
Züge sind blind unter Tag, in den Ausweichen stehen die Wa¬
chen, in den Stollen hinein, in die Schicht, sechzehn Stunden,
zwei Tage, drei, und wieder heraus, und hinein, zu Fuß und in
Fetzen, bis zu der Höhle, sie nennen sie Halle, Messerschmitt,
Messerschmitthalle, bis zum Organ. Zu Hundert, in Gruppen,
allein.
Einen Gang heraussprengen, einen Stollen, der ein Grab wird für
viele, und doch nicht fertig wurde für Deutschland.
In Schwaz, heißt es, half man beim Sterben nicht nach. In Schwaz,
hieß es, holt einen der Zug.
Und das Sprenggas. Ohne Helm, ohne Schutz, ohne Maske starb
es sich wie von selbst.
Auch in Schwaz hat die Erde ein gutes Gedächtnis, das liegt unter
Tag und ist groß, eine Höhle. Auch in Schwaz ist die Erde
verschwiegen, kein Wort an den Wänden, kein Name, kein Zei¬
chen. Die Toten vom Lager in Schwaz haben in Schwaz keinen
Ort, und so gibt es sie nur im Gerücht und in der Erzählung von
damals, da liegen sie in den Gruben im Berg, im Beton, im
Fundament von der Halle und in den Feldern von Schwaz, da
erinnern sie sich, wie es war. An den Volkssturm aus Schwaz und
Umgebung. SS. An die Kapos aus den eigenen Reihen. Die waren
die Ärgsten, sagt einer, der im Werk war damals, und erzählt, wie
sie leblose Körper vom Boden aufprügeln zur Arbeit, er hat es
gesehen.
Die Russen haben geschaufelt, gebohrt, betoniert und gegra¬
ben, das war nicht genug, das Organ brauchte weitere Nah¬
rung, die hat man gehabt. Baracken, im Osten hat man ein
Lager gebaut, dort hat man die Italiener, Franzosen und Polen
gehabt. Die sind mit den Russen ins Werk jeden Tag und haben
dort arbeiten dürfen nach Plan, der war national, Italiener
hatten zu sprengen, die Russen schaufeln das Material auf die
Züge. Italiener fahren die Züge heraus aus dem Berg und
hinein. Angetrieben von der SS und vom Volkssturm aus
Schwaz und Umgebung und von den eigenen Leuten haben sie
in der Halle Maschinen bedient und für den Krieg produziert,
Flugzeuge sollten fliegen für Deutschland, und Russen und
Polen und Tschechen, Spanier, Italiener, Franzosen sollten sie
bauen in Schwaz, unter Tag, in der Erde, so war es geplant.
Messerschmitt. Messerschmitt, Schwaz.
Das Organ ist gewachsen und wuchs, vor dem Berg standen neue
Baracken, so brauchte es weitere Nahrung, die hat man gehabt
und ein Lager geplant in der Nähe von Buch, auf der Landebahn
wurde gelandet, die gibt es nicht mehr, gab es nicht, nie, sagen
viele, doch schaut man im Frühjahr von Gallzein in das Tal,
erkennt man an dem Ort einen Schatten, an dem sich die Schwazer
Felder noch immer erinnern an sie.
Aus einem Steinbruch in der Nähe von Schwaz, in der Nähe von
Buch, hat man Schüsse gehört nach einem Aufstand im Lager,
mehr sagt die Erinnerung nicht, und fragt man sie nach den Toten,
ein Fundament kann man nicht fragen, und die Felder um Schwaz
sind zu groß, um darin eine Antwort zu finden.
In Frankreich gab es einen Ort, der hieß Oradour, Oradour-sur¬
Glane, in dem haben Menschen gelebt bis zum 10. Juni ‘44. An
diesem Tag kamen andere Menschen in das Dorf Oradour, deut¬
sche Menschen, die teilten das Dorf in zwei Teile, in Männer und
Frauen, die Kinder sind mit den Frauen zur Kirche gegangen und
in die Kirche hinein, die Männer hat man in Gruppen in Scheunen
geführt, aus den Scheunen hat man Schüsse gehört und Musik,
dann hat die Kirche gebrannt und das Dorf, Oradour hat es nicht
mehr gegeben.
In Schwaz in Tirol gibt es in einem Berg eine Höhle, in der wurde
für den Krieg produziert, die wurde gesprengt nach dem Krieg
von Franzosen. Im Osten von Schwaz gab es ein Lager, das hieß
nach dem Krieg Oradour. Zur Erinnerung, nicht als Vergeltung.
Oradour. Dort wurde angehalten. Entnazifiert. Auch das Lager
gibt es nicht mehr, die Baracken, in Schwaz gibt es nur noch die
Erzählung und das Gerücht. Und die Halle.
In Schwaz hat die Erde ein gutes Gedächtnis, das liegt unter Tag,
im Innern des Körpers von Schwaz liegt es im W ort Fundament
und im Wort Oradour, im Wort Halle, im Wort Messerschmitt.
Messerschmitthalle.
Abgebaut wird in Schwaz immer noch, abgebaut und gesprengt,
die Blöcke werden in Steine zerschlagen, die Steine werden zu
Schotter zerschlagen, die Steine werden zu Schotter zerschlagen,
der liegt nicht unter Tag und ist sichtbar und liegt frei auf den
Wegen, und schaut man genau, auf jedem der Steinchen steht
Messerschmitt. Messerschmitt, Schwaz.
Auf jedem der Steinchen steht Oradour.
Alois Hotschnig, geboren 1959 in Berg im Drautal (Kärnten),
studierte Medizin, Germanistik und Anglistik in Innsbruck. Seit
1989 freischaffender Schriftsteller; mehrfach ausgezeichnet; lebt
derzeit in Innsbruck. Werke: Aus (Erzählung, Frankfurt/M.
1989); Eine Art Glück (Erzählung, Frankfurt/M. 1990); Leonar¬
dos Hände (Roman, Hamburg/Zürich 1992); Absolution (Stück,
Köln 1994).