streng geahndet. Nennst du jemanden Saujud, kommst du für ein
Jahr in den Knast, so einfach ist das... Bei uns in der Sowjetunion
werden alle Völker gleich behandelt.“
„So etwas hat es noch nie und nirgends gegeben“ , brummte
die Großmutter, der der Gast immer noch nicht ganz geheuer
war.
„Aber doch! Aber doch!“ ereiferte sich der Major. ‚Schauen
Sie mich an. Mein Vater war bei uns in Mosyr der ärmste der
Armen, ein Luftmensch, wie man damals gesagt hat. In meiner
Jugend habe ich gehungert. Vor der Großen Oktoberrevolution
konnte ich nicht einmal lesen und schreiben, habe im Hafen
Kisten verladen. Die Partei hat mir eine Ausbildung und eine
Militärkarriere ermöglicht. Dem Genossen Stalin sei’s gedankt.
Es gibt kein schöneres Land als die Sowjetunion. Sie können sich
glücklich schätzen, von uns befreit worden zu sein.“
Man erzähle so viele entsetzliche Geschichten über das Leben in
der Sowjetunion, sagte plötzlich Großvater, der bis dahin geschwie¬
ihm einen scharfen Blick zu, eine Mischung aus Angst und Wut, und
Bens Mutter begann dem Major ganz reizend zuzulacheln, gab ihm
noch ein Stiickchen Kuchen, schenkte Tee ein.
„Nichts als Lügen“, erklärte Berkin, während er verzückt die
Teetasse aus feinem chinesischen Porzellan betrachtete, bevor er
sie zum Mund führte. „Bei uns sind alle Menschen glücklich. Nur
unsere Feinde haben sich zu fürchten. Da kennen wir keinen
Pardon.“
Sein Schwiegervater sei eben ein alter Mann, verstehe
nichts von der neuen Zeit, sagte Bens Vater schnell und mit
lauter Stimme, um Großvaters Protesten zuvorzukommen. Er
selbst jedenfalls habe nie an die antisowjetische Propaganda
der reaktionären Zeitungen in Polen geglaubt. Er sei immer ein
Linker und vom Sieg der fortschrittlichen Kräfte überzeugt
gewesen.
Ben wunderte sich ein wenig über den Gesinnungswandel
seines Vaters, der ein gemäßigter Sozialdemokrat und Antibol- ©
schewik gewesen war. Aber Ben verstand, daß man den Gast
nicht so brüskieren durfte, wie es Großvater getan hatte, der nun
mürrischen Blicks seinen Tee schlürfte, etwas nervös an seinem ®
Bart zupfte und, kaum hörbar für die anderen, unverständliche 7
Halbwörter murmelte. ;
Major Berkin nickte zufrieden, griff nach der Wodkaflasche, ©
öffnete sie.
„Laßt uns auf den Genossen Stalin anstoßen und auf einen 6
bessere Zukunft.“
Da konnte natürlich niemand widersprechen, nicht einmal
Großmutter. Bens Mutter brachte Gläser, schenkte ein. Alle wa¬
ren aufgestanden. 5
„Auf den Genossen Stalin, Vater aller Völker, Hoffnung der #
werktätigen Massen, den besten Menschen der Welt!“ brachte Ber- 7
kin den Tost an. ,,Auf eine Zukunft in Frieden und Wohlstand für ®
alle und auf den Sieg des Sozialismus!“ Er leerte das Glas in einem ©
Zug, wahrend die anderen nur nippten, schenkte sich sogleich selbst 7
nach, trank, wurde sichtlich gelöster und besser gelaunt. |
Mit Bewunderung betrachtete Ben den jüdischen Major, der ®
einen so bravourösen, beinahe martialischen Eindruck machte, #
auf ihn wie ein Riese wirkte und mit seinen Pratzen wohl eigen¬
händig die Feinde der Sowjetmacht zerdrücken würde, wenn er |
welche zu fassen bekam. Dies ist der Angehörige einer richtigen
Volksstreitmacht, dachte Ben, hat nicht einmal Schulterstücke,
weil diese Armee keine so offensichtlichen Rangabzeichen dul- #
det, ist auf den ersten Blick kaum von einem einfachen Soldaten
zu unterscheiden, ist so ganz anders als dic cingebildeten polni- ©
schen Offiziere mit ihrem exaltierten Gehabe und operettenhaften #
Uniformen. a
Und fiir einen Augenblick war auch Ben nahe daran zu glau¬
ben, daß die Leiden und Emicdrigungen des jüdischen Volkes #
vorbei, auf der ganzen Welt vorbei seien, wenn erst einmal die ®
Weltrevolution den Globus ordentlich ausgemistet hätte. Dann #
jedenfalls war die Übersiedlung nach Palästina, vonderermanch- #
mal insgeheim träumte, überflüssig. Das antisemitische Polen |
fliege. ©
Gern hätte Ben dem Major viele Fragen gestellt. Aber er war
wohlerzogen, schwieg und hörte zu, wenn die Erwachsenen
Gespräche führten. Am Abend würde ihm sein Vater in seiner
umfassenden Art und mit unbestechlichen Logik alles genau
erklären.
Nach dem dritten Glas zündete sich Berkin eine Zigarette an.
Als Aschenbecher benutzte er, was sogar Ben ein wenig irritierte,
eine der schönen Porzellanuntertassen.
Großmutter öffnete demonstrativ das Fenster.
Für kurze Zeit stellte sich peinliches Schweigen ein.
Der Major deutete das Schweigen wohl falsch, denn er bot
Bens Vater und Großvater Zigaretten an, streckte ihnen die
Schachtel entgegen, zwinkerte ihnen zu, sagte: „Sowjetische
Qualitätsware, probieren Sie!“
Höflich wurde sein Angebot abgelehnt, weil Vater nur Zigar¬
ren rauchte und auch die nie im Salon, sondern ausschließlich im
Arbeitszimmer, und Großvater schon vor Jahren das Pfeifenrau¬
chen aufgegeben hatte.
„Soll ich Ihnen noch etwas bringen, Genosse Major?“ fragte
Bens Mutter.