Ließe sich dergleichen nicht auch über Österreich sagen? Beschwor nicht die
im Ständestaat offiziöse und in der Nachkriegszeit wirksame Österreich-Ideolo¬
gie ein ewiges, wahres und gutes Österreich? War nicht auch sie der Ausdruck
eines Selbstbehauptungswillens? Und verband sie sich nicht, in der Sozialpart¬
nerschaft, mit dem Glauben an die alleinseligmachende soziale Harmonie? Und
hat nicht auch die österreichische Literatur, ein Jahrzehnt später vielleicht als die
der Schweiz, den Kampf mit der Österreich-Ideologie aufgenommen und ist, wie
Viktor Suchy bemerkte, ausgezogen, ‚das Böse in den Schlupfwinkeln der
Provinz‘ aufzuspiiren?
Gravierend sind dennoch die Unterschiede. Die ,,gute Schweiz“ des emotio¬
nalen Patriotismus hatte den Vorzug der Diesseitigkeit, war auf der Erdoberflä¬
che anzutreffen. Die Österreich-Ideologie mußte das zeitweilige Verschwinden
des Staates verarbeiten und neigte daher in manichäischer Weise dazu, das
„wahre Österreich“ nicht im unwahren Schein realer Gegebenheiten anzusie¬
deln, sondern im mystisch Verborgenen blühen zu lassen. Und der literarische
Ankampf gegen die Provinz entlarvte nicht so sehr das in den Winkeln des
Landes nistende Böse, als daß er die Klage über die Entsubstantialisierung des
Lebens führt. Die „Provinz“ wurde der österreichischen Literatur allgegen¬
wärtige Metapher für ein Leben, das durch den Faschismus seinen Zu¬
sammenhang, seinen inneren Wert und seine Folgerichtigkeit verloren hatte, ein
geducktes, abwartendes Dasein, das unter der Geschichte gleichsam hindurch¬
schlüpfen wollte. Die Folgen der nationalsozialistischen Katastrophe wirkten in
Österreich selbstverständlich länger und verheerender nach als in der Schweiz.
Provinz und Modernisierung
Während es den Schreibenden in Österreich (soweit sie das Schreiben nicht als
Bewährung ihrer Unsensipbilität betrieben) darum ging, überhaupt einen Lebens¬
zusammenhang auszumachen, in dem Liebe und Haß noch eine Rolle spielen
konnten, wurden sie in den 70er Jahren in den Dienst einer nach Max Weber’¬
schem Modell propagierten Modernisierung genommen. Den soziologisch den¬
kenden Vertretern dieser Richtung galt die Modernisierung als Allheilmittel, in
der Provinz identifizierten sie die Rückständigkeit eines in ihren Augen fast noch
halbfeudalen Österreich. Man könnte, mit Karl-Markus Gauß, diesen Modernis¬
mus als einen antiprovinziellen Provinzialismus charakterisieren, vereinigt er
doch die für die Provinz typische Tendenz zur Selbstaufgabe mit dem ebenso
provinziellen Schielen nach scheinbar fortgeschritteneren Zuständen anderswo.
Die Debatte um den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union war mit
Argumenten des antiprovinziellen Provinzialismus reichlich garniert. Das hekti¬
sche Bemühen, den ,,Anschlu8“ an die Moderne nur ja nicht zu verpassen, war
einer ruhigen und vor allem souveränen Abwägung von Vor- und Nachteilen
nicht eben dienlich.
In Österreich konkurrierten und überlagerten sich zwei verschiedene Begriffe
der Provinz, ein literarischer und ein soziologischer. Ein kritischer Patriotismus
im Sinne Peter von Matts kündigte sich in Österreich erst in den 1980er Jahren
an, als sich die Literatur aus der soziologischen Vormundschaft emanzipierte
und - so in der Auseinandersetzung um Kurt Waldheim — das ,,andere Oster¬
reich“, das Osterreich des Exils und des Widerstands, zu entdecken und zu
verteidigen begann. Die Wende trat ungefähr 1984 ein. Mit den Romanen
Elisabeth Reicherts, Robert Menasses und des erst jetzt zur Geltung gelangenden
Fred Wander, den Erzählungen Erich Hackls, den Gedichten Robert Schindels
und den Stücken Felix Mitterers schien eine neue Epoche der Literatur begonnen
zu haben. Auch diesmal in auffälligem zeitlichen Gleichtakt mit der Schweiz.
So wie in Österreich der alte Ankampf gegen die Provinz in ein anderes
Geleise gekommen schien, wurde auch in der Schweiz ,,die Opposition zwischen
dem emotionalen und dem kritischen Patriotismus“ nunmehr ‚‚yon einer neuen
Frontlinie gekreuzt“. Für Peter von Matt hatte die „‚Fortschrittsexplosion“ nicht
nur das Gesicht des Landes fast zur Unkenntlichkeit verändert, sie hatte auch
drastisch die Grenzen der technischen Rationalisierbarkeit des Lebens gezeigt.
Fritz Zorns Bericht „Mars“ verdankte seinen großen Erfolg dem Umstand, daß
der medizinisch unheilbare Krebs zur ,,Hieroglyphe“ fiir die Grenze des Fort¬
schritts geworden war. Die Krankheit wurde zur ,,nationalen Metapher“, ,,der
ZWISCHENWELT
JAHRBUCHER DER THEODOR
KRAMER GESELLSCHAFT
Zwischenwelt versucht, der literaturwissen¬
schaftlichen und kulturgeschichtlichen Aus¬
einandersetzung mit dem österreichischen
Exil ein Forum zu geben. Mit jedem Band
werden die Grenzen des bisher Bekannten
und Geläufigen überschritten, Lücken der For¬
schung geschlossen und neue Deutungsan¬
sätze vorgestellt.
Die Buchreihe Zwischenwelt kann als ein ge¬
meinsames Werk der in der Theodor Kramer
Gesellschaft zusammenwirkenden Forscherin¬
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Mit einem Gesamtverzeichnis der
Sekundärliteratur zu Theodor Kramer. Redak¬
tion: Siglinde Bolbecher, Johann Holzner,
Konstantin Kaiser, Primus-Heinz Kucher, Wil¬
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Bd. 4: Literatur und Kultur des Exils in GroBbri¬
tannien. Hg. von S. Bolbecher, K. Kaiser, Do¬
nal McLaughlin, J.M. Ritchie. Wien 1995. 382
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1998. 297 S. OS 278,-/DM 38,10/SFr 35,50
Bd. 6: Literatur der ‘Inneren Emigration’ aus
Osterreich. Hg. von J. Holzner und Karl Müller.
Mit einem Personenregister. Wien 1998. 473
S. OS 398,-/DM 54,50/SFr 49,50
Bd. 7: Ergebnisse des Londoner Theodor Kra¬
mer-Symposiums (Arbeitstitel). In Vorberei¬
tung, erscheint 1999.
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