In Berthold Viertels satirischem Roman Das Gnadenbrot (1927)
erfährt man über die Angst des Schauspielers vor der Kritik.
„Kein Zeuge sollte die zitternden Hände sehen, die nach der
Zeitung griffen, niemand sein Gesicht, nachdem es die Kritik
gelesen hatte. Er war mit seiner Kritik allein.“! Der Schauspieler
Ullrich, der die Theaterkritik verachtet, empfindet doch vor ihrer
Lektüre ‚die wahre Todesfurcht“. Daß die Kritiker einander
widersprechen, der eine mit ‚‚Seele“ , der andere mit ‚‚ Vernunft“
spricht, interessiert den ‚‚Charakterspieler‘“ nicht, er registriert
nur den Verriß und fühlt sich vernichtet. Nicht Argumente sind
es, die er lesen möchte, es ist der gedruckte Applaus, auf den alles
ankommt.
Die Theaterkritik als eine zuverlässige Auskunft über die
Aufführung zu lesen, davor hat bereits einer der Besten der Zunft,
Alfred Polgar, gewarnt. Seine eigenen „Besprechungen“, so
schrieb er 1926, geben „weit weniger über das Besprochene
Aufschluß als über den Besprecher.‘“? Alfred Polgar vermochte
das Genre Theaterkritik in den Rang von Literatur zu heben,
indem er dessen eigentümliche Möglichkeiten erkannte und in der
Manier einer impressionistischen Erzählung die Atmosphäre der
Aufführung als subjektive Beschreibung einfing. Der Autor hatte
allerdings Erfahrungen in der Wirklichkeit gemacht und machen
müssen, die dieser Subjektivität ihr demokratisches und antifa¬
schistisches Gesicht gab. Seine Subjektivität war durch eine tiefe
Kluft von jener vergeßlichen, nur dem Augenblick gewidmeten
Subjektivität unzähliger Kritikerkollegen getrennt, die jeglicher
Mode des Tages huldigten und sich rasch im pseudo-objektiven
Duktus der nationalsozialistischen ‚‚Kunstbetrachtung“ zurecht
fanden.
Nimmt man nun schließlich die gewöhnlichen Rezipienten
von Theaterkritik, zerstreute Adepten von Gerüchten vielfach
und nicht unbedingt mit den Besuchern der Aufführungen iden¬
tisch, so könnten diese — wie Gregers Werle aus Ibsens Wildente,
nur ohne die fatalen Folgen - die ‚ideale Forderung“ erheben, in
diesem Fall an die moralische Integrität des Kritikers. Sie würden
allerdings die Realität verfehlen, betrachteten sie nicht die kon¬
kreten Bedingungen, Interessenlagen, Machtkonstellationen, un¬
ter denen so etwas wie „Theaterkritik‘“ entsteht. In der histori¬
schen Beschäftigung mit dem Theater wird von diesen Konstel¬
lationen gerne abgesehen und einem Relativismus gefrönt, der die
Theaterkritik — in Ermangelung anderer Quellen — zur Quelle
erster Instanz erklärt. Wenn die Platitüden der Kritik in den
Dissertationen verewigt werden, liest sich das, nachgedichtet,
ungefähr so: „‚F. lobt die dichte Inszenierung, das seelisch-atmo¬
sphärische Bühnenbild und das alle melancholischen Stimmun¬
gen auslotende Ensemblespiel. K. hingegen bedauert, daß die
grotesken Elemente mit ihrer Hintergründigkeit in der sonst sehr
farbigen, beinahe musikalischen Inszenierung zu kurz gekommen
seien.“
Zur Erlangung eines Maßstabes für die Möglichkeiten von
Kritik bietet sich tatsächlich der Blick in die Geschichte an, der
in Wahrheit zugleich ein Blick auf unsere Gegenwart ist: Dieje¬
nigen Theaterkritiker des zwanzigsten Jahrhunderts, die die iso¬
lierte Aufführungsbeschreibung auf unterschiedliche Weise
durchbrachen, sind vermehrt unter den durch die Nationalsozia¬
listen Verfolgten und Vertriebenen zu finden. Es sind dies bei¬
spielsweise Alfred Polgar und Ludwig Ullmann, die ins Exil
gingen, Edwin Rollett, der das NS-Regime als Häftling in den
Konzentrationslagern Dachau und Flossenbürg überlebte, oder
Otto Basil, der mit Publikationsverbot belegt war.
1933 entstand in Wien — angesichts des Triumphes der Natio¬
nalsozialisten in Deutschland — ein fundamentaler Beitrag über
die österreichische und deutsche Theaterpublizistik. Er findet
sich in der Dritten Walpurgisnacht von Karl Kraus, diesem so
früh geschriebenen und so spät erst vollständig veröffentlichten
Werk.? Hierin ist gleichsam Kraus’ letztes Wort zur Theaterkritik
enthalten, die er stets als eine der schlimmsten Ausprägungen von
Journalismus attackiert hatte.
Die Ablenkung der österreichischen Theater- und Kulturpublizi¬
stik von der Wirklichkeit des Hitlerregimes und dessen Anne¬
xionspropaganda ist eines der großen Themen der Dritten Wal¬
purgisnacht: ;
Das 6 Uhr-Blatt ringt um die Befreiung Österreichs, aber weiß
man denn, was im Herbst unter Preminger sein wird? Vor dem
Höllenrachen erhebt sich die Frage, ob das Pallenberg-Gastspiel
perfekt wird, und zwischen Folterkammerspielen die Gestalt
Robitscheks. Daß Reinhardt, der dauerhafte Fetisch der Aufklä¬
rung, stärker denn je blendet und betäubt; daß um den Hokuspo¬
kus eines Nichtssagers das Geraune von ‚Führergenialität!“
immer brünstiger wird, mag auf den Drang zurückzuführen sein
nach einem Ersatz für das, was der arische Glaube in der Hitler¬
regie gefunden hat. Aber daß von eben deren Wirkungen durch
solchen Plunder abgelenkt werden kann, ist gleichwohl tragisch.
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Wie der phrasenreich in Gang gehaltene Prominentenrum¬
mel und die Abfeierung von Aufführungen den Blick auf das
Wesentliche in Realität und Dichtung verstellt, ist ein altes
Thema von Karl Kraus, es erhält nun, 1933, seine Bestätigung
wie Steigerung.* Dabei ist der Kontrast zwischen der Realität
und einem journalistischen Schreiben, das mit dem Theater
eine hermetische Welt konstruiert, nur eine Facette der The¬
matik. DaB auch im ,,Ersatz“, im ,,[A]bgelenkt [W]erden“ die
Sprache der Barbarei triumphiert, wollte Kraus an der Art, wie
die Theaterpublizistik seinen alten Antipoden Max Reinhardt
feierte, einsichtig machen. ,,Hitler-Regie in Deutschland ver¬
sus Reinhardt-Regie in Salzburg“, so analysierte Paul Stefa¬
nek, ist ein fragwiirdiger Vergleich, bei dem Kraus einerseits
den ,,katastrophalen Verlauf jener unterschatzt haben“ mag,
zugleich aber den Finger auf ,,die Anfalligkeit groBer Teile der
Gesellschaft für charismatische Führer-Naturen, diesseits und
jenseits des NS-Staates“ legt.
Mit Reinhardt trifft Kraus einen vom NS-Regime Vertriebe¬
nen, die Schärfe der Angriffe früherer Jahre wird dabei keines¬
wegs gedämpft, ja eher gesteigert. Das ist in der Dritten Walpur¬
gisnacht bereits an früherer Stelle nachzulesen, als Kraus gegen¬
über dem von ihm satirisch attackierten Reinhardt eine ,,schier
unzerst6rbare Phénixzuversicht“ konstatiert: „Die Neigung des