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Fritz Beer Ich will nicht erinnern Brief an eine Freundin Liebe Renate, Dank für das Buch Deiner Schwester. Ich hoffte, ein altes Gespenst zu begraben, wenn ich es zu Ende lesen könnte. Aber nach ein paar Seiten mußte ich es weglegen. Das ist nun schon über fünfzig Jahre so. Auf alten Zetteln in verstreuten Mappen und im Speicher meines Wordcomputers unter abstrusen Hinweisen schlafen Gedankensplitter, die mir gelegentlich dazu einfielen. Ich klebe sie jetzt zusammen. Vielleicht erklären sie, warum es so ist. An einem Morgen knapp vor Kriegsende, während der Belagerung von Dünkirchen durch die tschechische Auslandsarmee, kam ich aus der Frontstellung in die Etappenstadt und sah in einer Zeitung das erste Foto aus Belsen, hunderte nackte ausgemergelte Leichen von Männern, Frauen und Kindern, die eine tiefe Totengrube füllten. Mir wurde schwindlig, die Wände schwankten, der Boden bebte, ich schluckte bittere Galligkeit zurück, ich wollte mich nicht übergeben, ich war ja ein Soldat, ich sollte doch hart geworden sein nach fünf Kriegsjahren. Aber jetzt, auf die Probe gestellt, war ich nicht hart. Vielleicht lag mein Vater in dieser Grube oder mein kleiner Bruder. Ich hatte diesen Augenblick all die langen Jahre gefürchtet. Es half nicht, daß ich mich dagegen wehrte, ich hatte das Leichenfoto jetzt gesehen und konnte nicht mehr die Augen davor schließen. Es griff nach mir, so waren meine Freunde, meine Familie gestorben. Ich verlor die Besinnung. Die Zeitungsverkäuferin belebte mich mit einem nassen Tuch, bot mir einen Stuhl an und brachte mir ein Glas Calvados — „Das kann nicht einmal Gott wieder gutmachen“. Die Menschen auf der Straße sagten ‚So sind die Boches“, und zum ersten Mal seit zwölf Jahren widersprach ich nicht. Das Foto des Massengrabs hatte in einer Blitzsekunde verschüttet, was ich all die Zeit trotz viel Anfeindung und manchmal, in der Armee, auch persönlicher Bedrohung, über das Andere Deutschland gesagt hatte. Eine maßlose Wut packte mich, nicht gegen die Nazis, sondern gegen die Deutschen. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich mich daran erinnerte, daß ich einmal, in einer der vielen erbitterten Debatten mit meinen Armeekameraden über deutsche Kriegsgreuel, auf ihre Rachephantasien geantwortet hatte: ‚„„Wir sollten nicht die Deutschen hassen, sondern die Menschen, die sie zu Tieren machten.“ Hatte ich mir damals nicht geschworen, alles zu tun, um zu verhindern, daß es vergessen würde, daß es noch einmal geschehen könnte? Nach Kriegsende wußte ich lange nicht, ob meine Familie und meine Freunde noch lebten. Ich verschlang alle Berichte, sah die Wochenschauen, sprach mit Überlebenden und prüfte immer wieder von neuem die gleichen Listen der aus den Lagern Geretteten, vielleicht hatte ich die Namen übersehen, die ich suchte. Als es keine Hoffnung mehr gab, nur viele Bilder von Totengruben, schloß ich die Augen und floh. Ich fürchtete die Zeugen, die Fotos, die Filmstreifen des Entsetzens. Die Kinder auf dem Weg in die Gaskammern trugen das Gesicht meines kleinen Bruders; in den Schlangen vor den Baracken standen immer auch mein Vater, seine Schwester und die jungen Mädchen meiner Schulklasse, in die ich aus der Ferne schüchtern verliebt war. Ich wußte, daß ich diese Bilder niemals vergessen könnte, den fünfjährigen Jungen aus einem polnischen Dorf, mit der viel zu großen Stoff16 miitze, schmuddligen Kindersocken, schwarzen aufgeschreckten Augen, und vor den Wachsoldaten erhobenen Händen; die nackten Frauen im Schnee, auf dem Pfad zur Ermordung, manche hielten die Hand vor die Scham, wie sie es in diesen letzten Lebenssekunden wohl noch nannten. Ich hatte das Recht, die Augen zu schließen, zu verdrängen, die Leichengruben zuzuschütten, wegzulaufen. Obwohl ich wußte, daß das unmöglich war und daß Vergessen die Toten zum zweiten Mal ermordete. Ich las kein Buch über die Lager, über die Vernichtung. Ich sah weder Shoah noch Holocaust. Auch Schindlers Liste nicht. Ich tobte und klagte an, wenn die Täter es verdrängten, leugneten. Sie benutzten die Lüge als eine Krücke für ihr verkrüppeltes Gewissen. Ich brauchte mein Verdrängen als Krücke fürs Weiterleben. Natürlich war es vergeblich. Das Geschehene war immer da, auch wenn ich wegsah. So kam mir die Idee, es aufzuschreiben, so wie es in mir schwelte, es in ein Erinnerungsbündel einzupakken und wegzulegen, wie alte Briefe, die säuberlich gestapelt auf dem Speicher verstauben. Ich hatte im Kopf schon einen Plan dafür, als Du in die BBC kamst. Du warst für uns im Deutschen Dienst, für alle, nicht nur für die Juden, ein Wunder. Man zögert, dieses Wort auszusprechen, auch wenn man es denkt, es ist zu groß und abgegriffen. Dur warst ein einzigartiger Beweis für unseren Sieg. Hitler hatte den Krieg verloren, nicht weil, sondern — so schien es uns —, wie Du die Nacht überstanden hattest. Er hatte unsere Welt nicht vernichten können. Weil wir mehr und bessere Waffen hatten, und weil es etwas gab, für das es keine nüchternen Worte gibt: den Lebensmut und die innere Kraft, die Dich ins Londoner Funkhaus brachten, in schwarzen hohen SS-Stiefeln, anmutig, lachend und flirtend, manchmal etwas abfällig oder empört über alberne Kollegen, eine anscheinend normale junge Frau, mit den üblichen Schwächen und Vorzügen. Vermutlich hast Du gelegentlich bemerkt, wie wir achtsam und besorgt verfolgten, was Du tatst, ob Du erfolgreich warst, ob man Dich schätzte, ob Deine Wunden vernarbten. Du warst ja unser aller Geliebte, Tochter, Schwester, Kindheitsschwarm. Deine Kollegen wußten das voneinander, auch wenn wir es niemals sagten, weil wir fürchteten, kitschig zu werden. Damals kam mir der Gedanke, Dein Leben zu schreiben. Nicht als einen Tatsachenbericht sondern als Roman, der den tieferen Sinn Deines Überlebens ausdrücken würde. Ich wollte ihn nicht für die Welt schreiben, oder, wie es viele und auch Deine Schwester in ihren Büchern sagen, damit unsere Kinder wüßten, wie es war, sondern für mich. Für den Gottlosen, Ungläubigen, von Erfahrung Gezüchtigten, dem Dein Überleben, so wie das aller aus den Lagern Aufgetauchten, als etwas Unfaßbares erschien, nicht nur weil ich es wegen meiner sprachlichen Dürftigkeit nicht ausdrücken konnte, sondern weil die logischen, rationellen, physisch faßbaren und irdisch wägbaren Elemente meines Weltbildes es nicht erklären konnten. Ich wußte natürlich, daß außerhalb dieser dingbaren Welt auch noch etwas anderes unsere Existenz bestimmt. Und daß man dafür den poetischen Begriff Seele strapaziert. Aber was war das? Wovon nährte sich die Seele auf dem kalten Appellplatz, im Geruch verbrennender Leichen, oder auch nur unter dem Fußtritt einer Lagerwache? Ich wollte Dich lange, geduldig und, so hoffte ich, verständnisvoll ausfragen, um Konturen für das Bild zu gewinnen, das mir vorerst nur in Fragmenten vorschwebte. Aber eines Tages kamst Du von einer Aufnahme im Studio in unseren siebenten Stock zurück, verstört und bedrückt. Die Sekretärin, die Dich begleitete — eine flachshaarige Hamburgerin