Zum 90. Geburtstag von Konrad Merz, einem
der letzten deutschen Exilautoren der ersten
Stunde, am 2. April 1998
„Daß ‘Ein Mensch fällt aus Deutschland’
gedruckt erschienen ist, betrachte ich als ei¬
nen der glücklichsten Momente im literari¬
schen Bestehen der ganzen deutschen Emi¬
gration“, schrieb der holländische Kritiker
Menno ter Braak, als 1936 im Amsterdamer
Querido Verlag, einer der besten Adressen
für Exilliteratur (mit Autoren wie Döblin,
Feuchtwanger, Kesten, Keun, Polgar, Seg¬
hers, Toller, Klaus Mann, Heinrich Mann,
Joseph Roth), das Buch eines völlig unbe¬
kannten Emigranten namens Konrad Merz
erschien. Der Schutzumschlag erklärte den
Titel: „Mein Vater ist für Deutschland gefal¬
len / Sein Sohn ist aus Deutschland gefallen“.
Autobiographisch inspiriert, handelt das
Buch - in einer Montage aus Briefen und
Aufzeichnungen - von derFluchteines durch
die Nazis steckbrieflich gesuchten Berliner
Studenten und seinen Schwierigkeiten im
holländischen Exil. „Ein Mensch fällt aus
Deutschland“ ist das erste wirkliche Exil¬
buch, geschrieben von einem, der durch die
Emigration erst zum Autor wurde. Das Werk
hat bis auf den heutigen Tag nichts von seiner
Kraft und Eindringlichkeit verloren. Es ge¬
hört zu den bedeutendsten, anriihrendsten li¬
terarischen Zeugnissen, in denen die Leiden
und existentiellen Bedrohungen des Exils
thematisiert sind: die totale Mittellosigkeit
und der tägliche erbärmliche Kampf ums
Überleben, das Ausgeliefertsein und die Ein¬
samkeit in der Fremde — kurz: der schäbige
kleine Alltag eines Namenlosen ohne Paß
und Geld, mit all den Stolpersteinen, nicht zu
wissen, was man am nächsten Tag essen, wo
man schlafen kann.
Merz erzählt nicht larmoyant oder pathetisch,
vielmehr salopp und leger, mit Witz und Ironie,
gelungenen Wortspielen und Hollandismen,
immer wieder auch poetisch-melancholisch.
(Gelegentliche Anklänge an Keun oder Fleißer
gereichen dem Buch nicht zum Nachteil.)
... », Wir haben die Schlacht nicht verloren —
denn wir leben noch! Du lebst noch?“ ‚Du
hast seit gestern nichts gegessen, und du
weißt nicht, ob du in diesem Jahr noch ein
Brot verdienen wirst. Und du lebst noch?“ ...
Plötzlich stand ein Kellner vor mir und frag¬
te, ob ich nicht endlich zahlen wollte. ‚Der
Herr da drüben wird bezahlen“, wollte ich
sagen, aber es war jetzt im ganzen Raum
niemand zu finden... Die Kapelle spielte:
„Wenn du jung bist, gehört dir die Welt“ ...
Ich legte dem Kellner ein Lächeln auf den
Tisch. Weil ich noch lebe.
Das Buch berichtet femer von der Hilfsbe¬
reitschaft Einzelner im Exil und dokumen¬
tiert den Überlebenswillen und Widerstands¬
geist der Emigranten: „Nichts will ich ver¬
gessen... Alle Fußtritte, alle Blutstropfen
werden wir zurückschleppen nach Deutsch¬
land, mitten durch das Brandenburger Tor,
wenn der Tag gekommen sein wird, wenn die
Zuchthäuser geöffnet werden ... Saat unterm
Schnee. Und sie wird aufgehen in jenem
Sommer. Den wir vielleicht niemals erleben
werden.“
Konrad Merz, der eigentlich Kurt Lehmann
heißt, stammt aus jüdischem Arbeitermilieu
in Berlin und hat seine triste Jugend folgen¬
dermaßen skizziert: „Krieg. Waisenhaus.
Träumereien und Kohlrüben. Lehrling in
Baumwollwaren. Lagerist, Verkäufer, Ver¬
treter für Marmorwaren. Kontorist. Reisen¬
der für Konserven usw. Sechs Jahre Statist
bei der Oper. Kurze Zeit gestempelt.“ Aller¬
dings gelang ihm. 1928 der Sprung zum
Abendgymnasium und anschließenden Jura¬
studium — bis ihn die Nazis 1933 vertrieben
und er 1934 emigrierte.
Mit seinem Erstling hatte Konrad Merz im
Exil eine kleine literarische Beriihmtheit er¬
langt. Klaus Mann urteilte 1936 positiv im
„Pariser Tagblatt“: „Es ist in diesem Buch
eine Unmittelbarkeit, eine echte Intensität
des Gefühls ... Wir aber wissen, daß aus
seiner ersten Arbeit eine Stimme spricht, die
uns immer fesselt, zuweilen hinreißt. Eine
neue Stimme. Man wird sie hören.“ Meız’
zweites Exil-Opus „Generation ohne Väter“,
laut Menno ter Braak ,,der “Zauberberg’ der
Emigration, von Dostojewski geschrieben“,
ist leider verschollen, nachdem der Ziiricher
Oprecht Verlag das Manuskript angenom¬
men hatte.
Und dann 1940 der Einmarsch der National¬
sozialisten in Holland und die Besetzung. Da
Merz zur Emigration in ein anderes Land die
Mittel fehlten, mußte er untertauchen: die
meiste Zeit versteckte ersich auf dem Dach¬
boden eines Gärtnerhauses in Ilpendam in
einem Schrank. „Von 1940 bis 1945 gestor¬
ben“, resiimiert er diese grauenvollen Jahre,
während derer auch seine Mutter in Au¬
schwitz ermordet wurde.
An Schreiben war dann nach der Befreiung
zunächst nicht zu denken - also erlernte Merz
den Beruf des Masseurs und wurde Physio¬
therapeut in einer Klinik, zuletzt mit eigener
Praxis in der Nähe von Amsterdam. Aller¬
dings fand er später zur Literatur zurück und
begann nach vierzigjährigem Schweigen
wieder zu publizieren, und zwar bitterböse,
grotesk-surreale Geschichten, zumeist aus
dem Leben seiner Patienten. Sie erzählen
„von Sinnenlust und Todessehnsucht auf
dem Hintergrund von Auschwitz“ und sind
in den Bänden ‚‚Der Mann, der Hitler nicht
erschossen hat“ (Agora Verlag 1976) und
„Glücksmaschine Mensch“ (Ammann Ver¬
lag 1982) gesammelt.
Noch einmal zehn Jahre vergingen, bis im
Herbst 1992 ein weiteres Buch von Merz mit
dem Titel ,,Liebeskunst fiir Greise. Memoi¬
ren unseres Jahrhunderts“ (Aufbau-Verlag)
erschien. Ungemein phantasievoll und anre¬
gend, geprägt sozusagen vom Geist Marc
Chagalls, bildet es eine Art Summe seines
Schaffens, wurde aber mangels Interesse bei
Kritik und Publikum schon bald vom Verlag
verramscht...
Zwar hat es seit 1978 mehrere Neuausgaben
von „Ein Mensch fällt aus Deutschland“ (zu¬
letzt soeben als Aufbau-Taschenbuch 1391)
gegeben — sein übriges Schaffen und seine
Person blieben eher unbeachtet. Kaum ein
Literaturlexikon, kaum eine der einschlägi¬
gen Untersuchungen zur Exilliteratur erwäh¬
nen ihn. Konrad Merz hat bislang keinen
deutschen Literaturpreis erhalten. Und mit¬
unter erkundigt man sich telefonisch bei sei¬
ner Frau in Holland, wann Konrad Merz ge¬
storben sei?...
So wird also die Chance vertan, einen der
letzten aktiven Zeugen und Gestalter des
literarischen Exils der Jahre ‘33 bis ‘45 ge¬
bührend zur Kenntnis zu nehmen und zu
befragen. Bleibt anläßlich seines 90. Ge¬
burtstages zu hoffen, daß sich dies jetzt nach
Erscheinen seiner „Memoiren aus 90 Jah¬
ren“ mit dem Titel ,, Berliner, Amsterdamer,
und ach — Jude auch“ (achterland verlag,
192 Seiten, Leinen, DM 30,-), die am 5.
April in einer Matinee im Berliner Gorki¬
Theater erstmals vorgestellt wurden, nach¬
haltig andern wird!
Taschenbuchausgabe von Conrad Merz’
„Ein Mann fällt aus Deutschland“,
erschienen im Berliner Aufbau
Taschenbuch-Verlag 1998. (öS 109,-)