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Thomas B. Schumann Zum 90. Geburtstag von Konrad Merz, einem der letzten deutschen Exilautoren der ersten Stunde, am 2. April 1998 „Daß ‘Ein Mensch fällt aus Deutschland’ gedruckt erschienen ist, betrachte ich als einen der glücklichsten Momente im literarischen Bestehen der ganzen deutschen Emigration“, schrieb der holländische Kritiker Menno ter Braak, als 1936 im Amsterdamer Querido Verlag, einer der besten Adressen für Exilliteratur (mit Autoren wie Döblin, Feuchtwanger, Kesten, Keun, Polgar, Seghers, Toller, Klaus Mann, Heinrich Mann, Joseph Roth), das Buch eines völlig unbekannten Emigranten namens Konrad Merz erschien. Der Schutzumschlag erklärte den Titel: „Mein Vater ist für Deutschland gefallen / Sein Sohn ist aus Deutschland gefallen“. Autobiographisch inspiriert, handelt das Buch - in einer Montage aus Briefen und Aufzeichnungen - von derFluchteines durch die Nazis steckbrieflich gesuchten Berliner Studenten und seinen Schwierigkeiten im holländischen Exil. „Ein Mensch fällt aus Deutschland“ ist das erste wirkliche Exilbuch, geschrieben von einem, der durch die Emigration erst zum Autor wurde. Das Werk hat bis auf den heutigen Tag nichts von seiner Kraft und Eindringlichkeit verloren. Es gehört zu den bedeutendsten, anriihrendsten literarischen Zeugnissen, in denen die Leiden und existentiellen Bedrohungen des Exils thematisiert sind: die totale Mittellosigkeit und der tägliche erbärmliche Kampf ums Überleben, das Ausgeliefertsein und die Einsamkeit in der Fremde — kurz: der schäbige kleine Alltag eines Namenlosen ohne Paß und Geld, mit all den Stolpersteinen, nicht zu wissen, was man am nächsten Tag essen, wo man schlafen kann. Merz erzählt nicht larmoyant oder pathetisch, vielmehr salopp und leger, mit Witz und Ironie, gelungenen Wortspielen und Hollandismen, immer wieder auch poetisch-melancholisch. (Gelegentliche Anklänge an Keun oder Fleißer gereichen dem Buch nicht zum Nachteil.) ... », Wir haben die Schlacht nicht verloren — denn wir leben noch! Du lebst noch?“ ‚Du hast seit gestern nichts gegessen, und du weißt nicht, ob du in diesem Jahr noch ein Brot verdienen wirst. Und du lebst noch?“ ... Plötzlich stand ein Kellner vor mir und fragte, ob ich nicht endlich zahlen wollte. ‚Der Herr da drüben wird bezahlen“, wollte ich sagen, aber es war jetzt im ganzen Raum niemand zu finden... Die Kapelle spielte: „Wenn du jung bist, gehört dir die Welt“ ... Ich legte dem Kellner ein Lächeln auf den Tisch. Weil ich noch lebe. Das Buch berichtet femer von der Hilfsbereitschaft Einzelner im Exil und dokumen40. tiert den Überlebenswillen und Widerstandsgeist der Emigranten: „Nichts will ich vergessen... Alle Fußtritte, alle Blutstropfen werden wir zurückschleppen nach Deutschland, mitten durch das Brandenburger Tor, wenn der Tag gekommen sein wird, wenn die Zuchthäuser geöffnet werden ... Saat unterm Schnee. Und sie wird aufgehen in jenem Sommer. Den wir vielleicht niemals erleben werden.“ Konrad Merz, der eigentlich Kurt Lehmann heißt, stammt aus jüdischem Arbeitermilieu in Berlin und hat seine triste Jugend folgendermaßen skizziert: „Krieg. Waisenhaus. Träumereien und Kohlrüben. Lehrling in Baumwollwaren. Lagerist, Verkäufer, Vertreter für Marmorwaren. Kontorist. Reisender für Konserven usw. Sechs Jahre Statist bei der Oper. Kurze Zeit gestempelt.“ Allerdings gelang ihm. 1928 der Sprung zum Abendgymnasium und anschließenden Jurastudium — bis ihn die Nazis 1933 vertrieben und er 1934 emigrierte. Mit seinem Erstling hatte Konrad Merz im Exil eine kleine literarische Beriihmtheit erlangt. Klaus Mann urteilte 1936 positiv im „Pariser Tagblatt“: „Es ist in diesem Buch eine Unmittelbarkeit, eine echte Intensität des Gefühls ... Wir aber wissen, daß aus seiner ersten Arbeit eine Stimme spricht, die uns immer fesselt, zuweilen hinreißt. Eine neue Stimme. Man wird sie hören.“ Meız’ zweites Exil-Opus „Generation ohne Väter“, laut Menno ter Braak ,,der “Zauberberg’ der Emigration, von Dostojewski geschrieben“, ist leider verschollen, nachdem der Ziiricher Oprecht Verlag das Manuskript angenommen hatte. Und dann 1940 der Einmarsch der Nationalsozialisten in Holland und die Besetzung. Da Merz zur Emigration in ein anderes Land die Mittel fehlten, mußte er untertauchen: die meiste Zeit versteckte ersich auf dem Dachboden eines Gärtnerhauses in Ilpendam in einem Schrank. „Von 1940 bis 1945 gestorben“, resiimiert er diese grauenvollen Jahre, während derer auch seine Mutter in Auschwitz ermordet wurde. An Schreiben war dann nach der Befreiung zunächst nicht zu denken - also erlernte Merz den Beruf des Masseurs und wurde Physiotherapeut in einer Klinik, zuletzt mit eigener Praxis in der Nähe von Amsterdam. Allerdings fand er später zur Literatur zurück und begann nach vierzigjährigem Schweigen wieder zu publizieren, und zwar bitterböse, grotesk-surreale Geschichten, zumeist aus dem Leben seiner Patienten. Sie erzählen „von Sinnenlust und Todessehnsucht auf dem Hintergrund von Auschwitz“ und sind in den Bänden ‚‚Der Mann, der Hitler nicht erschossen hat“ (Agora Verlag 1976) und „Glücksmaschine Mensch“ (Ammann Verlag 1982) gesammelt. Noch einmal zehn Jahre vergingen, bis im Herbst 1992 ein weiteres Buch von Merz mit dem Titel ,,Liebeskunst fiir Greise. Memoiren unseres Jahrhunderts“ (Aufbau-Verlag) erschien. Ungemein phantasievoll und anregend, geprägt sozusagen vom Geist Marc Chagalls, bildet es eine Art Summe seines Schaffens, wurde aber mangels Interesse bei Kritik und Publikum schon bald vom Verlag verramscht... Zwar hat es seit 1978 mehrere Neuausgaben von „Ein Mensch fällt aus Deutschland“ (zuletzt soeben als Aufbau-Taschenbuch 1391) gegeben — sein übriges Schaffen und seine Person blieben eher unbeachtet. Kaum ein Literaturlexikon, kaum eine der einschlägigen Untersuchungen zur Exilliteratur erwähnen ihn. Konrad Merz hat bislang keinen deutschen Literaturpreis erhalten. Und mitunter erkundigt man sich telefonisch bei seiner Frau in Holland, wann Konrad Merz gestorben sei?... So wird also die Chance vertan, einen der letzten aktiven Zeugen und Gestalter des literarischen Exils der Jahre ‘33 bis ‘45 gebührend zur Kenntnis zu nehmen und zu befragen. Bleibt anläßlich seines 90. Geburtstages zu hoffen, daß sich dies jetzt nach Erscheinen seiner „Memoiren aus 90 Jahren“ mit dem Titel ,, Berliner, Amsterdamer, und ach — Jude auch“ (achterland verlag, 192 Seiten, Leinen, DM 30,-), die am 5. April in einer Matinee im Berliner GorkiTheater erstmals vorgestellt wurden, nachhaltig andern wird! Taschenbuchausgabe von Conrad Merz’ „Ein Mann fällt aus Deutschland“, erschienen im Berliner Aufbau Taschenbuch-Verlag 1998. (öS 109,-)