„Warum uns Geschichte
“angeht’“
Warum uns Geschichte ‘angeht’, würde Gerda
Lerner ihr kürzlich auf Englisch erschienenes
Buch ,,Why history matters“ übersetzen, ob¬
wohl dies der Mehrdeutigkeit des Originals
nicht gerecht werde. Das neueste Werk der
Pionierin der Frauenforschung präsentiert sich
als geschickte Montage von persönlichen Re¬
miniszenzen und den Ergebnissen 16jähriger
geschichtswissenschaftlicher Arbeit zu einem
äußerst lesbaren, didaktisch geschriebenen
Buch. Die zahlreichen meist zuvor publizierten,
doch gründlich überarbeiteten Essays über ‚,zi¬
vilen Ungehorsam“, gewaltfreien Widerstand
(Mahatma Gandhi, Leo Tolstoi) und Unter¬
drückung von Frauen in der Geschichte, die auf
umfangreichem Quellenstudium basieren, bie¬
ten auch jenen, die Lerners grundlegende Ar¬
beiten wie „‚Die Entstehung des feministischen
Bewußtseins“ nicht kennen, einen idealen Ein¬
stieg. Die eingeflochtenen autobiographischen
Kapitel erweisen sich zudem durch ihre erzäh¬
lerische Form als besonders effizient, um den
LeserInnen die Notwendigkeit von Geschichts¬
bewußtsein auseinanderzusetzen und Bereiche
wie Holocaust, Flucht, Immigration, Fremde
zumindest in Bruchstücken ihrer Dimension zu
vermitteln.
In den ersten Kapiteln schildert Lerner, daß ihr
feministisches Bewußtsein aus der Diskrimi¬
nierung als Frau im jüdischen Kult resultiert;
die Erfahrung des Holocaust machte die Be¬
schäftigung mit Geschichte zur Verpflichtung;
Flucht und Immigration verlangten diffizile
Entscheidungen, wie den künftigen Umgang
mit der Muttersprache oder die Form der Be¬
wältigung der Fremde, mittels kultureller Ab¬
grenzung, völliger Assimilierung oder Akkul¬
turation.
Mit Ruth Klüger teilt sie ihr Befremden über
deutsche Holocaust-Gedenkstätten, die für sie
jüdische Kultur ins Museum verbannen. Die
kollektive historische Erfahrung der jüdischen
Diaspora bewirkte, daß Gerda Lerner sich der
historischen Gründe der sexistischen und öko¬
nomischen Diskriminierung und Marginalisie¬
rung von Frauen zuwandte. So weist sie auf
deren Nichtexistenz in Archiven, in offiziellen
Geschichtsschreibungen zahlreicher Kulturen
(vom Altertum bis ins späte 20. Jahrhundert)
hin und analysiert die Entstehung des Patriar¬
chats mittels sozialhistorischer, anthropologi¬
scher und soziologischer Methoden.
Die innovative Stärke Gerda Lerners liegt vor
allem in der Darstellung der Interdependenzen
zwischen „class“ (soziale Schicht), „race“
(ethnische Unterschiede) und „gender“ (sozia¬
le Organisation der Geschlechterdifferenz). Pa¬
triarchale Macht drückt sich durch Herrschaft
liber ,,gender“ und ,,race“ aus.
Ebenso warnt sie vor Trugschliissen, etwa daB
Minderheiten grundsätzlich weniger anfällig
für Rassismus seien oder daß es Solidaritäten
zwischen Minoritäten einer Gesellschaft gebe.
Gerda Lerner zielt mit ihrer Forschung auf die
Etablierung eines historischen, vor allem aber
eines feministischen Bewußtseins. Auf ihr
@uvre hinzuweisen, scheint mir auch heute
wieder besonders wichtig, dasich innerhalb der
feministischen Forschung im letzten Dezenni¬
um auch Tendenzen eines neuen — zum Teil
reaktionären — Weiblichkeitsmythos gezeigt
haben, der alte patriarchalisch-biologistische
Zuschreibungen (Köıper, Natur, Gefühl, Irra¬
tionalität) positiv wendet, statt sie als Unter¬
drückungsstrategie zu demaskieren, und damit
wieder eine biologistische Argumentations¬
schiene einer sozialhistorischen vorzieht.
Ursula Prutsch
Gerda Lerner: Why History Matters. Life and
Thought. New York/Oxford: Oxford University
Press 1998. 249 pp. (Paperback). USD 13,95
Erinnerungen, Bilder,
Geschichten von Rosemarie
Schulak
Man muß den Mut der Verfasserin bewun¬
dern, denn sie bringt gerade Geschichten, an
die sich der Großteil der österreichischen Be¬
völkerung nicht gerade gern erinnert. Rose¬
marie Schulak schickte mir das Buch mit der
Bemerkung zu, ihr Werk würde in ihrer Hei¬
mat nicht gerade zu einem Bestseller werden.
Nach der Lektüre mußte ich feststellen, daß
diese Bemerkung die Sache auf den Kopf
trifft. Aber, wie die Verfasserin schon auf der
ersten Seite der ersten Erzählung klarstellt: ...
lang zurückgehaltene Bilder müssen entste¬
hen, alles drängt die tätige Erinnerung zum
Werk.
Schulak mischt die Farben des Erinnerungs¬
bildes ausgezeichnet. Da sind helle vom La¬
chen der Großmutter, blutrote von der Mut¬
ter, die erst ihre Söhne und dann sich erschie¬
ßt, nachdem ihr Mann abtransportiert worden
ist, und dunkle wie die Kleider der Frau Lan¬
genbach. All das gibt eine Vorstellung vom
sinnlosen Geschehen der Kriegsjahre und
dem jetzt üblichen Verdrängen aller dieser
Vorfälle.
Ja, da sind doch einige, die die Chuzpe haben
zu überleben und zurückkommen. Wie Herr
Langenbach, der, wer weiß durch welche Ma¬
chenschaften, am Leben geblieben ist und
uns auf diese Weise unsere Untaten täglich
vor Augen führt. Das hätte er anständigen
Menschen nicht antun sollen. Aber zum
Glück sind alle diese Rückkehrer nicht mehr
die Jüngsten. Man muß nur Geduld haben, bis
sie aussterben.
Rosemarie Schulak zeichnet das Bild in kla¬
ren Linien. Vieles ist ausdrücklich ver¬
schwiegen, doch selbst das Schlimmste geht
indirekt aus ihrer Darstellung hervor. So hof¬
fe ich, daß ihr Buch doch noch einige Ver¬
breitung findet. Österreich hat es nötig.
Arie Efrat
Rosemarie Schulak: ... Die vergessen sind. Er¬
innerungen. Bilder. Geschichten. Wien: Edi¬
tion Doppelpunkt 1997. 243 S. OS 195,¬
„Bittere Jugend“ von Gerty Spies
Wie Theodor Kramer wurde Gerty Spies 1897
geboren: ,, Vaterlicher- wie miitterlicherseits ent¬
stamme ich alteingesessenen jiidischen Fami¬
lien, die schon vor weit zuriickliegenden Jahr¬
hunderten ins Rheinland eingewandert waren.
Mein Vater war Kaufmann, ein allseits bekannter
Trierer Mundart-Dichter und höchst angesehe¬
ner Bürger, meine Mutter von jung auf Kranken¬
schwester und Operations-A ssistentin.“ Der
Bruder war im Ersten Weltkrieg gefallen. Gerty
Spies heiratete einen Nicht-Juden, bekam eine
Tochter. Nach sieben Jahren wurde die Ehe ge¬
schieden.
Zwischen den Weltkriegen lebte Gerty Spies in
München und erfuhr die zunehmende Feind¬
schaft Juden gegenüber. ‚Wenn es läutete, starb
ich jedesmal vor Angst, weil ich dachte: Jetzt
holen sie mich.“ Die Mutter war inzwischen in
die Vereinigten Staaten ausgewandert. 1942
wurde Gerty Spies in das Konzentrationslager
Theresienstadt transportiert. Die Tochter blieb
allein in München zurück. ‚Gleich am Anfang
schon starben einige Ankömmlinge am Hunger,
an den Strapazen und am völligen Medikamen¬
tenmangel. Nach kurzer Zeit mußten wir eine
Arbeit antreten. Ich entschloß mich, in der Glim¬
merspalterei zu arbeiten, wo ich bis kurz vordem
Ende der Leidenszeit mit wenigen Unterbre¬
chungen weiterdiente.“
Gerty Spies überlebte. Ihr Gedichtband ‚There¬
sienstadt“ erschien 1947, doch erst 1984 wurde
ihr Buch ‚‚Drei Jahre Theresienstadt“ publiziert.
Der Roman „Bittere Jugend“, in den fünfziger
Jahren geschrieben, wurde von den Verlagen mit
der Begründung ‚so schlimm sei es doch nicht
gewesen“ abgelehnt.
„Bittere Jugend“ ist weder eine vordergründige
Abrechnung noch der Erlebnisbericht grauen¬
voller Jahre, wiewohl ein autobiographischer
Hintergrund den Rahmen der Erzählung prägt.
Die Anklage äußert sich zwischen den Zeilen.
„Man kann noch so viel Gutes tun, solange man
das Schlechte geschehen läßt, ist man schuldig.“
Seit vier Jahren herrscht Krieg, als die jugendli¬
chen Protagonisten des Romans ihre Umwelt
erfahren. „Er, der Krieg, wollte alles für sich
alleine haben, das Herz, den Verstand, den gan¬
zen lebenden Menschen und seinen Tod. Er woll¬
te nichts teilen. Nichts sollte übrigbleiben, was
ihm nicht gehörte.“ Gegensätze treten nicht al¬
lein in gesellschaftlicher, sondern auch in politi¬
scher Hinsicht zutage: Während die einen trach¬
ten, die Zeitumstände zu übertünchen, dennoch
Bohnenkaffee trinken statt Kaffee-Ersatz, sind
die anderen der nationalsozialistischen Wirk¬
lichkeit mehr oder weniger hilflos ausgeliefert.
„Für jeden kommt die Stunde, wo man denkt, es
hat keinen Sinn mehr zu kämpfen ... Wer ist
schon zum Helden geboren.“
Den Sehnsüchten und Hoffnungen der Zwanzig¬
jährigen, ihrer Naivität und Unbekümmertheit,
stehen Ängste und schockierende Erlebnisse ge¬
genüber, wobei sich erweist, daß Männer nicht
zwingend zum „Heldentum‘“ geboren sind. Sie
sind zum Kriegsdienst verpflichtet, ohne die Fol¬
gen zu begreifen. „Herbert stand in Rußland,