der Zeitschrift ,, Literatur und Kritik“, Salzburg),
so gelesen, als wollte Wippersberg in literarisch
verbrämter Form seine Erklärung der Serie von
Bombenattentaten, die nun Franz Fuchs zur Last
gelegt werden, liefern. Auch die von Wippersberg
angedeutete Komplizenschaft hoher österreichi¬
scher Polizeibeamter mit rechtsextremen Terrori¬
sten (bekannt schon aus Josef Haslingers ‚‚Opern¬
ball“) wurde ganz realistisch genommen und
ernsthaft widerlegt.
Die Berechtigung einer solchen durch die jüng¬
sten Ereignisse nahegelegten Lektüre soll nicht
bestritten werden (ein politisches Buch muß
sich politische Kritik gefallen lassen und kann
nicht vor ihr zu literarischen Qualitäten Zu¬
flucht nehmen), wohl aber die dem Autor un¬
terstellte Absicht, diese Ereignisse auf seine Art
zu erklären: Denn Wippersberg geht es gar
nicht um die Identität der Täter, sondern um die
Identität der Nicht-Täter und möglichen Opfer.
Doch diese künstlerische Intention wird in sei¬
nem Roman nur in Ansätzen erkennbar.
Die zentrale Figur von Wippersbergs Roman ist
Martha Dressler, eine Frau mittleren Alters,
unverheiratet, Lehrerin, die in einer österreichi¬
schen Provinzstadt lebt, ein unentschiedenes,
abwartendes Leben führt; in den langen Som¬
merferien reist sie ziellos durch den mediterra¬
nen Süden. Sie hat seit vielen Jahren einen
Liebhaber, der einmal in der Woche zu ihr
kommt, den Apotheker, dessen Vater seinerzeit
ein lokal bekannter und eifriger Nationalsozia¬
list gewesen ist. Martha Dressler schöpft aus
verschiedenen Anhaltspunkten langsam den
Verdacht, daß ihr Liebhaber in terroristische
Aktivitäten neonazistischer Kreise, die das gan¬
ze Land bereits mit einem Netz konspirativer
Zellen überzogen haben, verwickelt ist. Im kon¬
kreten Fall geht es darum, daß durch die ange¬
drohte Vergiftung von Trinkwasser die Veröf¬
fentlichung eines neonazistischen Manifests in
den Massenmedien erzwungen werden soll.
Martha Dressler wendet sich schließlich an die
Polizei und wird, nachdem sie ihre Geschichte
einem höheren Polizeioffizier erzählt hat, durch
Genickschuß in ihrem Auto ermordet. Das Pro¬
tokoll ihrer Aussagen bleibt verschwunden.
Der große Mangel des Buches besteht darin,
daß Wippersberg seine Erzählung nicht kon¬
sequent aus der Perspektive Martha Dresslers
aufbaut, nicht aus ihrem zunehmenden Ge¬
fühl einer Bedrohung, nicht aus ihrer verzei¬
felten und grübelnden Suche nach Beweisen
für den einmal gefaßten Verdacht. Hätte sich
Wippersberg daran gehalten (und der Titel
„Die Irren und die Mörder‘ deutet doch dar¬
auf hin, daß ihm dies vorschwebte), wäre ihm
vielleicht ein Buch über die Verwirrung
Martha Dresslers gelungen, über eine Frau,
die in ein abwartendes, provisorisches Leben
hineingeglitten ist und gezwungen wurde und
unsicher und isoliert dagegen aufbegehrt.
Wippersberg hätte dann auch den Zusam¬
menhang zwischen all dem Ungelebten und
Unwachen, das uns in Österreich immer wie¬
der auffällt, und der meist verleugneten nicht
überwundenen nationalsozialistischen Ge¬
sinnung so vieler „‚Anständiger“ und ,,Tiich¬
tiger“ thematisieren können.
Während Martha Dressler den durch die natio¬
nalsozialistische Herrschaft und die Nach¬
kriegsperiode geschaffenen strukturellen Anti¬
semitismus des Landes unreflektiert als einen
Zustand hinnimmt, den man nicht ändern kann,
betrachten ihr Apothekerfreund und seine Ge¬
sinnungsgenossen den strukturellen Antisemi¬
tismus als ein Recht, auf das sie Anspruch ha¬
ben, und fühlen sich durch die halbherzigen
Versuche, diese Struktur aufzubrechen, zu hy¬
sterischen Reaktionen provoziert.
Statt die Szenen, in denen die Verschwörer ihre
Pläne aushecken, gegen den sehr realen Ver¬
dacht, den Martha Dressler hegt, abzuschattie¬
ren, siedelt Wippersberg alle Vorgänge auf der¬
selben Realitätsebene an. Er will mit Martha
Dressler eine Figur gestalten, deren Tragödie
uns tatsächlich interessieren könnte, und zudem
bietet er uns die handfeste Story einer in dieser
Form wenig wahrscheinlichen Verschwörung.
Und damit tut er des Guten zu viel.
K.K.
Walter Wippersberg: Die Irren und die Mörder.
Roman. Salzburg, Wien: Otto Müller Verlag
1998. 184 S.
Moritz Levy, 1879 in Sarajevo geboren, stu¬
dierte mit einem Stipendium der bosnischen
Landesregierung semitische Philologie an der
k.k. Universitat in Wien, wo er 1907 auch die
Rabbinerprüfung ablegte. Zurückgekehrt nach
Sarajevo, betätigte er sich als Religionslehrer
und war ab 1917 Oberrabbiner Sarajevos. Seine
Geschichte der sephardischen Juden Bosniens
ist vermutlich aus seiner Doktorarbeit und in
einer Zeit entstanden, in der der Eindruck einer
den Juden gegenüber gerechten, zu mäßigen
Reformen bereiten Herrschaft noch stärker wir¬
ken mochte als die Krisenzeichen, die auf den
Zusammenbruch des Habsburgerreiches hin¬
deuteten. So fügte sich auch Levys kleine Stu¬
die dem ideellen Gesamtwerk eines Geschicht¬
spositivismus ein, der im gleichmäßigen Gang
einer langen Friedensperiode die Löcher im
Bau des geschichtlichen Wissens durch gedul¬
dige Quellenforschung zu stopfen unternahm.
Von den beiden Hauptquellen, aus denen Levy
schöpfte, den (in türkischer Sprache abgefa߬
ten) „SidZilen‘“ (Protokollen) des Scheriatsge¬
richtes und den ,,Pinakes“ (Rechnungsbii¬
chern) der spaniolischen Judengemeinde von
Sarajevo, ist letzere mittlerweile versiegt: Die
Pinakes wurden im April 1941 zerstört, in je¬
nem April, in dem der Gymnasiallehrer Dr.
Moritz Levy vom Ustascha-Staat entlassen
wurde, um schlieBlich nach der deutschen Be¬
setzung Sarajevos deportiert zu werden und in
einem Konzentrationslager zu sterben.
Die jiidischen Gemeinden der Balkan-Halbinsel
entstanden im tiirkischen Herrschaftsbereich: Sul¬
tan Bajazet II. gewährte den 1492 aus Spanien,
1496 aus Portugal Vertriebenen Aufnahme in sein
Reich. Deren Hauptziele waren Saloniki und
Istanbul; um die Mitte des 16. Jahrhunderts dürften
die „‚Tschifut‘‘“ (Juden) bis Bosnien vorgedrungen
sein. Gegen Ende des Jahrhunderts baten sie, ein
gemeinsames „Han“ (Quartier, Herberge) in Sara¬
jevo beziehen zu dürfen, um beieinander wohnen
zu können. Ein hochgestellter Pascha, bei dem sich
zudem die vornehmen Muslime über die liederliche
Lebensart der Juden beklagt hatten, überließ ihnen
gegen festen jährlichen „‚Mukata“ (Mietzins) ein
Han von etwa 2.000 Quadratmetern, das man nicht
als Getto bezeichnen kann, weil die Tschifut nicht
gezwungen waren, in ihm zu wohnen. Die Streite¬
reien über den Mukata gehen durch die Jahrhunder¬
te der Pinakes.
Die zivilrechtliche Stellung der Fremdgläubigen
war im Osmanischen Reich bis 1839 ungeregelt.
Der jeweilige „Kadi“ (Richter) urteilte nurnach
dem ,,Scheriat“ (Scharia, muslimisch-religiöses
Recht) und ließ sich allenfalls durch ‚„‚Bak$i8“
bewegen, einen kaiserlichen „Ferman“ (Befehl,
Edikt), der Fremdgläubigen ein Privileg, ein be¬
stimmtes Recht zuerkannte, überhaupt in die
Sidzilen seines Gericht einzutragen.
Bei der Belagerung Sarajevos durch Prinz Eugen
im Jahre 1697 wurde das T'schifuthan eingeäschert,
und es entspann sich ein langer Streit, welchen
herabgesetzten Mukata die jüdische Gemeinde hin¬
fort zu zahlen habe, wenn sie die Gebäude auf
eigene Kosten wieder errichte. In den folgenden
Prozessen spielte ein kaiserlicher Ferman eine ma߬
gebliche Rolle. .
Die speziellen Wörter für muslimische und tür¬
kische Rechtsinstitute, für die verschiedensten
türkischen Würdenträger und Beamten stehen als
Schlüsselwörter in den Rechnungsbüchern der
Kultusgemeinde: Schlüssel, durch die man sich
des Zugangs zur von fremden Mächten be¬
herrschten Welt, einer gewissen Kalkulierbarkeit
des Daseins versicherte. Ähnlich halten wir uns
ja auch selber gerne an ein paar juristische Be¬
griffe, die wir einmal behalten haben, glauben
durch ihre Nennung zumindest eine vernünftige
Antwort der Rechtskundigen und Geschäftsfüh¬
renden erwarten zu dürfen.
Die spaniolischen Kaufleute Sarajevos bezogen
ihre Waren fast ausschließlich von der Republik
Venedig und waren von ihr mit einer eigenen
Steuer belegt; die jüdische Gemeinde blieb, alles
dung paßten sie sich dem Landesüblichen an,
trugen „‚Salvare“ (lange Pumphosen), keine drei¬
eckigen Hüte mehr, sondern Mützen, die aller¬
dings von Turbanen unterscheidbar sein mußten.
Die jüdischen Frauen hatten schwarze Stiefel zu
tragen, gelbe waren den Türkinnen vorbehalten.
Erst außerhalb der Stadt durften Juden und Chri¬
sten ein Pferd besteigen. Die Juden besaßen in
Kultusangelegenheiten und bei Streitigkeiten un¬
tereinander ihre eigene Gerichtsbarkeit, die der
„Chacham“ (Rabbiner) ausübte. Dem Sultan
hatten sie wie alle Fremdglaubigen die ,,Harac“
(Kopfsteuer) zu entrichten. Dem ,,Mutessellim“
(Kreisvorsteher) zahlten sie die ,,Komora“, um
nicht zum Straßenbau und anderen öffentlichen
Arbeiten herangezogen zu werden. Später als
andere Religionsgemeinschaften erhielten sie
durch kaiserlichen Ferman die Befugnis, sich bei
der Landesbehörde durch einen ‚„Chachambasi“
(der Rabbiner als Dorfschulze?) vertreten zu las¬