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Georg Rauchinger

Der Turnlehrer

Auszug aus dem Roman ‚Der Eindringling“

Der Sprechtag war gekommen. In den stillen Seitengassen neben
dem Gebäude des Universitätsgymnasiums standen reihenweise
die Autos, welche die Väter oder Mütter der Schüler gebracht
hatten. Nun gab es an der Anstalt mehrere hundert Schüler und
insgesamt zählte man nur wenige dutzend Autos, die ringsum
aufgefahren waren, indes riefen sie zwangsläufig den Eindruck
hervor, daß es die Schule der materiell bevorzugten Schichten
war, und dieser Eindruck war im wesentlichen ja auch richtig.
Während sonst die Mittelschulen für einen Stadtbezirk bestimmt
waren, kamen ins UG Schüler aus oft sehr entfernten Teilen der
Stadt, und so traf sich hier in diesen kühlen Hallen einer nachge¬
machten italienischen Gotik, die das Werk eines der führenden
Architekten jener Epoche war, da man entscheidend an der an¬
geblichen Verschönerung der Stadt gearbeitet hatte, ein nicht
geringer Teil der Gesellschaft. Natürlich waren es nicht nur
Kinder aus ihren Kreisen, die das UG besuchten, man sah an
solchen Tagen auch Gestalten aus dem Kleinbürgertum, faden¬
scheinig gekleidete Beamte oder ihre, durch Armseligkeit neben
der oft sehr betonten Eleganz der anderen abstechenden Frauen.

Die Professoren selbst gaben ebenfalls ein als schäbig zu
bezeichnendes Bild. Es war die Zeit, da das Geld seinen Wert
fast über Nacht verloren hatte, was wiederum die Quelle ra¬
scher Bereicherung für die einen abgab, zu denen auch ein
nicht geringer Teil der Familien gehörte, die ihre Kinder in
dieses Gymnasium mit der alten Tradition sandten; es führte
andererseits dazu, daß jene Schichten, die ein fixes Einkom¬
men bezogen, stark ins Hintertreffen gerieten, da ihre Gehälter
- an sich schon mager genug und unter sozusagen normalen
Zeiten nur erträglich, da es sich eben um ein sicheres Einkom¬
men handelte und auch das Alter durch die Pension vor dem
Ärgsten geschützt war - hinter dem sinkenden Geldwert gleich
einer Schnecke hinter dem dahinrasenden Windhund unend¬
lich zurückblieben. Diese ausgesprochen prekäre Situation
spiegelte sich in der abgeschabten Kleidung wider, in den
mageren Gesichtern mit der graufahlen Farbe der Haut, in der
Gereiztheit ihrer Stimmen. Jedoch würde man irren, erwartete
man, daß sie etwa ihre oft kaum verhüllte Not gegen die Kreise
einnähme, aus denen das Gros ihrer Schüler kam. Voll Neid
und Mißgunst, ja geladen mit Haß verfolgten sie die Bestre¬
bungen der sozial unter ihnen stehenden Gesellschaftsklassen,
durch Verweigerung der Arbeit, durch nicht selten spontane
Aufmärsche auf den Straßen die Löhne an die hinaufklettern¬
den-Preise wenigstens einigermaßen wieder anzugleichen. Es
war also ein gewohntes Bild, daß ein Professor in das Zimmer
stürmte, das im letzten Stockwerk speziell für die Konferenzen
der Professoren eingerichtet war, ein Zeitungsblatt schwen¬
kend und hinausschrie, daß nunmehr der letzte Rest irdischer
Gerechtigkeit im Schwinden begriffen sei, denn diese oder
jene Kategorie manueller Arbeiter habe durch resolute Anwen¬
dung aller Mittel erreicht, daß ihre Löhne auf ein Niveau
gestiegen seien, welches das Einkommen der Staatsangestell¬
ten um nicht weniges übersteige.

„Das meine Herren Kollegen,“ rief der Empörte, „ist der
Einbruch der Barbarei in die Welt! Wir graduierten Männer
erhalten weniger als irgend ein Metalldreher! Quousque tandem!

Das ist die neue Zeit, die für Wissen und geistige Arbeit nichts
übrig hat! Caveant consules!“

„Lassen Sie die Consules in Frieden, Herr Kollega“ , spöttelte
ein anderer, ‚die sind aus dem selben Holz!“

„Ich glaube, meine Herren, man müßte geistige und körperli¬
che Arbeiter vereinen, nämlich die letzteren soweit sie noch nicht
vom Gift angefressen sind, das da seit jenen Novembertagen
ausgespritzt wird, vereinen zum Kampf gegen die an unserem
nationalen Unglück Schuldigen.“ Pesenheimer, der Turnlehrer,
war es, der so sprach. Pesenheimer fiel dadurch auf, daß er immer
einherging, als hätte er das große Lineal geschluckt, das der
Mathematiker Hromadka dazu benutzte, um bei Lärm klatschend
auf den Katheder zu schlagen.

„Nationales Unglück? Das stimmt! Aber mit den Arbeitern
gemeinsame Sache machen? Quod non, Kollega Pesenheimer!“

„Ich sagte ja, nur mit denjenigen, die noch ein sauberes völki¬
sches Erbe in sich tragen. Wenn ich Ihnen etwas sozusagen im
Vertrauen sagen kann. Es gibt noch Kreise, die nicht untätig
zusehen wollen, wie wertvolles Volksgut vergeudet wird, durch
die Arbeitsunlust gieriger Elemente der Unterwelt. Haben Sie
noch nichts von der ‚Technischen Nothilfe’ gehört? Ich habe mich
dieser Organisation zur Verfügung gestellt, die bei neuerlichen
Streiks eingreifen wird gegen die verhetzten Massen.“

,‚Ja ja, löblich, Herr Kollega! Sehr löblich! Doch kommen Sie
mir nicht mit einer Vereinigung mit den Arbeitern. Wir als die
Träger des Gedankens der höheren Bildung des Menschen haben
die Pflicht, eine Sonderstellung einzunehmen.“

Mit einem Wort: Pesenheimer, der ursprünglich Prchala ge¬
heißen, diesen Namen aber aus Gründen seine Weltanschauung
dementsprechend hatte ändern lassen, konnte mit seiner Auffas¬
sung innerhalb seiner Kollegen nicht durchdringen. Hindernd war
auch seine Stellung als Lehrer eines Gegenstandes, der - trotz den
sälbungsvollen Worten ‚Mens sana in corpore sano!“, mit denen
ihn der Direktor, zuvor kaiserlicher Rat und nunmehr Regie¬
rungsrat, seinerzeit empfangen hatte — bei seinen Kollegen nicht
für voll galt. Dabei war Pesenheimer ein ausgesprochen guter
Lehrer seines Faches.

„Reaktionäre! Volksfremde Philister! Eingebildeter Bil¬
dungspöbel! Wartet nur, einmal kommt noch meine Zeit!“
knirschte er jedesmal nach solchen Gesprächen, wo es ihm klar
wurde, mit welcher Herablassung alle diese doctores oder auch
nicht graduierten Vertreter angeblich höherer Fächer mit ihm
sprachen.

So empfahl sich der am nun beginnenden Sprechtag überflüs¬
sig erscheinende Turnlehrer von seinen Kollegen, die er innerlich
mit obgenannten Epitheta bedacht hatte, knöpfte sein Jackett zu,
strich über sein gescheiteltes braunes Haar und den kleinen
Schnurrbart und besah sich im Spiegel im Vorraum des Profes¬
sorenzimmers, ob die sogenannten Koteletten, die er seitlich an
den Wangen trug, auch gerade und gleich hoch wären. Für ihn
war der Tag hier am UG erledigt. Indes rief ihn ja noch eine andere
Tätigkeit, die ihn mehr in Anspruch nahm als der Turnunterricht
hier. Wohl war sein Selbstgefühl — das ganz überaus empfindlich
war — davon betroffen, ganz einfach jetzt verschwinden zu müs¬
sen, wo die Herrn Kollegen mit betont wichtiger und einstudiert

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