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Silvia Schlenstedt

Bereits in der letzten Maiwoche des Jahres 1933
entwarf Arnold Zweig eine Schrift, die als ein
Buch der Warnung konzipiert war. „Bilanz der
deutschen Judenheit 1933‘ sollte von Anfang
an mehrere Elemente vereinigen: die Beschrei¬
bung des gerade erlebten ‚„‚Einbruchs der Ge¬
walt“, seine Erklärung aus geschichtlichen wie
gruppenpsychologischen Entwicklungen und
die Warnung an die Zeitgenossen, die Tragwei¬
te des Geschehens zu unterschätzen. Zweig ver¬
merkte die scharfen Reaktionen in Europa und
Amerika auf die ersten antijüdischen Aktionen
des Dritten Reiches und schrieb sie einer Ein¬
sicht zu, die er selbst zu verbreiten trachtete:
„Weil die Sache der deutschen Juden die der
europäischen Gesittung ist“, weil die „Sache
der bürgerlichen Gleichheit, Menschenrechte,
Zivilisation auch die der deutschen Juden
wird.“ (246) Dies blieb ein Grundgedanke,
auch wenn sich bei der Ausführung des Ent¬
wurfs noch Änderungen einstellten, vor allem
in den Dimensionen der Essay-Teile. Als das
Buch im Herbst 1933 ausgearbeitet vorlag, be¬
tonte Zweig: Wir „betrachten und vertiefen uns
in die Vernichtung der bürgerlichen Freiheit
und der menschlichen Gesittung, die am Sturz
der deutschen Juden sichtbar wird — Warnung
für die Völker rundum und die Juden“ (9), und:
„Man verteidigte die menschliche Zivilisation,
wenn man die Juden verteidigte.“ (26) Zweigs
Bemühen war darauf gerichtet, ebendiesen Zu¬
sammenhang darzustellen und zu erweisen.
Den gewaltsamen Bruch mit den Ergebnissen
der Moderne seit Aufklärung und bürgerlicher
Revolution, zu der die Emanzipation der Juden
gehörte, wollte er als einen grundlegenden Vor¬
gang zeigen, gefährlich zerstörerisch durch die
entfesselten politischen Affekte, als die Zivili¬
sation bedrohende Prozesse, die abzuwehren
viel mehr bedeutete, denn Partikularinteressen
zu verteidigen. Doch ging es Zweig gleichzeitig
um eine Verteidigung der deutschen Juden, die
vom öffentlichen Leben ausgeschlossen und
deren kulturelle Leistungen auf niederträchtige
Weise geleugnet und negiert wurden. Wenn
sein Autor später von „Bilanz der deutschen
Judenheit 1933“ als einer „Kampfschrift“, ei¬
nem „durchaus notwendigen Kampfbuch“
sprach, betraf das besonders diesen Zielpunkt:
die Leistungen, den Beitrag der Juden zur deut¬
schen, zur europäischen, zur Weltkultur heraus¬
zustellen.

Was sich zwischen dem Plan vom Frühjahr
1933 und dem Erscheinen des Buches im Que¬
rido-Verlag Februar 1934 vollzog, wie und mit
welchen Folgen in Zweigs Ausarbeitung der
Entwurf gesprengt wurde, und wie es kam, daß
zu Zweigs Enttäuschung die seinem „Bilanz“ ¬
Buch zugedachte Wirkung als ein Stück Warn¬
literatur ausblieb, dies alles ist jetzt aus der
Neuedition von „Bilanz der deutschen Juden¬
heit 1933“ (im Rahmen der Berliner Ausgabe)
zu erfahren. Der Wiedergabe des Erstdrucks

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sind im Anhang Entwürfe, Notizen und ausge¬
sonderte Kapitel beigegeben, zudem geplante
und realisierte Vor- und Nachworte zu späteren
Ausgaben. Das Nachwort des Bandbearbeiters
Thomas Taterka, ‚Entstehung und Wirkung“,
zeichnet minutiös die Genesis der Textarbeit
nach, was anschaulich und aufschlußreich be¬
reichert wird durch die Auswertung von Zweigs
Kalendernotizen und Korrespondenzen. Durch
die genaue Lektüre der Papiere im Nachlaß
werden bemerkenswerte Details zutage geför¬
dert, etwa der bisher nicht bekannte Umstand,
daß die junge Hannah Arendt in Paris Novem¬
ber/Dezember 1933 an den Endarbeiten von
„Bilanz der deutschen Judenheit“ beteiligt war
und sie, zusammen mit ihrem damaligen Ehe¬
mann, Günther Stern (Anders) ‚zu Zweigs eng¬
stem Umgang“ gehörte (vgl. 373). Aufschlüsse
sind in mehreren Hinsichten zu gewinnen, so
zum Beispiel zur Problematik der Wirkungsab¬
sicht: „‚Sie wissen, daß mir für dieses Buch die
Reichweite der Wirkung wichtiger ist als der
finanzielle Ertrag“ (Brief an den Verleger
Landshoff, 18.12. 1933); „Der Sinn von ‘Bi¬
lanz...’ war, übersetzt zu werden und so schnell
als möglich der Nazi-Propaganda entgegenzu¬
treten. England, Frankreich, Amerika, Polen
waren die Orte der Bedrohung. Keines von
allen hat bis jetzt das Buch erhalten können, und
so wird Monat für Monat der kritischen Zeit
vertan.“ (An Landshoff, 12.2.1934) Erkennbar
wird die Komplexität der Gründe für die aus¬
bleibende Wirkung bei nichtdeutschen Lesern;
so wird verwiesen auf Änderungen in der Hal¬
tung gegenüber Hitlerdeutschland, eine
„schleichende Anerkennung‘ durch das Aus¬
land(374) wie auch auf ein nachlassendes Inter¬
esse bei den Lesern. (Lion Feuchtwanger kon¬
statierte in einem Brief an Zweig vom Juni
1934, das Publikum „‚hat übergenug von allem
Essayistischen über jüdische Dinge und wendet
sich fluchtartig ab, wenn man ihm damit
kommt.“) Auf eine tieferliegende Problematik
verweist ein mitgeteilter Brief Zweigs vom Mai
1935 an den Verleger Benjamin Huebsch, den
er seit Beginn der Arbeit für eine Veröffentli¬
chung von „Bilanz“ in den USA zu gewinnen
suchte; ihm sei es immer gegangen um ‚‚den
ganzen Komplex, nicht also die Judenfrage,
sondern das Verhältnis, welches zwischen jeder
Minderheit und jeder Mehrheit innerhalb biolo¬
gischer Gruppen entsteht, und die Kräfte, die
zwischen ihnen walten“. „Das Schreckliche
[...] ist, wie wenig die meisten gebildeten Juden
und Nichtjuden die soziologischen Zusammen¬
hänge zwischen Antisemitismus und Kampf
gegen Sozialismus durchschauen. Wir haben
aber in Frankreich um 1890, in Rußland um
1905, in Deutschland von 1919 bis 1933 diese
Erfahrung gemacht und sehen sie jetzt auch für
Amerika heraufkommen: daß man, um den so¬
zialen Kampf zwischen den Besitzenden und
den Besitzlosen zu verzögern, ohne weiteres
bereit ist, irgendeine Minderheit — in diesem

Fall die Juden - dem Volksdrang zur Ablenkung
hinzuwerfen.“ (380/381)

Taterkas Nachwort weist aber auch tiberzeugend
nach, daß eine solche programmatische Erklä¬
rung wohl mit den theoretisch und kulturhisto¬
risch ambitionierten Teilen I und III von ,,Bi¬
lanz‘‘, mit dem Ganzen aber ,,nicht ohne weite¬
res übereinkommt“ (381). Der Mittelteil der Bi¬
lanz, „‚Ein jüdischer Ausschnitt‘, wuchs sich im
Verlauf der Arbeit aus zu einem fakten- und
namenreichen Querschnitt durch die Beteiligung
der Juden am geistigen und ökonomischen Le¬
ben in Deutschland, zu einer umfänglichen Auf¬
listung und Materialschütte jüdischer Leistun¬
gen. Zweig nutzte dabei zahlreiche Quellen —
von Lexika bis zum ,,Braunbuch“ —, aus denen
er Materialien z.T. kaum bearbeitet in seinen
Text iibernahm. So geriet ihm dieser Teil zu
einem „Buch im Buch“, das der ‚Darstellung
eine neue Achse“ gab und insgesamt „seinen
Charakter‘ änderte.(369)

Auffällig wird bei der Lektüre der „Bilanz“
indes eine weitere Diskrepanz. „Der jüdische
Ausschnitt“ wurde geschrieben in einer ent¬
schiedenen Abwehrstrategie gegen die Diskredi¬
tierung alles Jüdischen und den ‚Angriff der
Völkischen“, die ‚unermüdlich nach jüdischen
Bestandteilen schnüffeln“; um dem zu begeg¬
nen, wird — wie versichert wird - , nur widerstre¬
bend“ biologischer Boden betreten und „trotz
unserer spöttischen Grundhaltung“ ,,diese Ge¬
pflogenheit“ auch benutzt. Und so erscheinen in
des Autors Würdigung jüdischer Beiträge zur
deutschen Kultur auch die von manchem Getauf¬
ten und von „‚Halb- und Vierteljuden“ .(102/103)
Das Negieren rassistischer Ausgrenzung zeitigte
mitunter fatale problematische Konsequenzen.
Überblickt man die besonders in späteren Jahren
verfaßte umfangreiche Literatur zum Thema, hat
man sich jedoch bewußt zu machen, daß Arnold
Zweig hier einem Dilemma zu begegnen hatte,
von dem viele seither entstandene Darstellungen
über den Anteil der Juden an der Kultur einzelner

bei manchem Nachfolger wird es von Zweig
indes reflektiert und die Fragwürdigkeit solcher
Kategorisierung erörtert.

Zu den grundlegenden Schreibantrieben Arnold
Zweigs gehörte das Zurückweisen der völki¬
schen Behauptung vom parasitären und un¬
schöpferischen Wesen der Juden und, ebenso
durchgreifend, das Klarstellen, sie seien ,,noch
viel weniger ein einheitliches, in sich zusammen¬
hängendes Volksgebilde"(103). Beschreibt er
die Lage der deutschen Judenheit, der soziologi¬
schen und geistig-politischen Konstellationen,
die gerade sie prägten, so hält er eine kritische
Sicht für unerläßlich. Und das meint bei ihm: die
deutschen Juden hatten kein Bewußtsein ihrer
Lage, sie glaubten, die gewährte Gleichberechti¬
gung und bürgerliche Freiheit gäbe ihrer Gegen¬
wart und Zukunft Sicherheit, und besaßen doch
dafür ebensowenig Garantien wie die Proleta¬
rier. Die große Mehrheit der deutschen Juden
täuschte sich über ihre gesellschaftliche Situa¬
tion, sie verhielten sich als deutsche Bürger.
(213) Sie begriffen nicht, daß sie „‚dem Kern der
Sachlage nach“ Proletarier waren, allerdings
„Proletarier in einer dicken Hülle bürgerlicher