„Dann, Klaus, solltest du dir keine weiteren
Gedanken darüber machen, was vor dreiund¬
dreißig Jahren geschehen ist ... Mein Rat ist,
vergiß es, begrabe es ganz tief und hole es nicht
mehr hervor.“ Aber auch Thomas Mann, der zu
diesem Zeitpunkt bereits verstorben war, wußte
davon und nannte ihn in seinem Tagebuch den
„unechten“ Sohn.
Das Buch Klaus Pringsheims, der heute als Poli¬
tologe in Kanada lebt und dessen Vater erst 1978
starb, ist für den Leser auf vielfache Weise inter¬
essant. Es ist nicht nur eine spannende Autobio¬
graphie, sondern erzählt auch viel von den Fami¬
lien Mann und Pringsheim und von der Klugheit
Katia Manns, die immer im Schatten stand und
ohne die der große Schriftsteller doch niemals sein
Lebenswerk hätte vollenden können.
Der Hamburger Lektor und Publizist Uwe Nau¬
mann und die Germanistin Irmela von der Lühe,
die Biographin Erika Manns, faßten in einem
umfangreichen, sehr eindrucksvollen und le¬
senswerten Band alle Äußerungen der ältesten
Tochter Thomas Manns, die ihm von allen sei¬
nen Kindern am nächsten stand und in späteren
Jahren seine unentbehrliche Mitarbeiterin wur¬
de, über ihren Vater zusammen.
Das Buch, dem die Herausgeber ein sehr kun¬
diges, klug differenzierendes Nachwort beige¬
geben haben, ist inzwischen auch als Taschen¬
buch erschienen. Es enthält neben verstreut pu¬
blizierten Interviews, Aufsätzen und Kommen¬
taren auch zwei sehr schöne und sensible Wür¬
digungen der Mutter Katia Mann sowie Zeug¬
nisse über den Kampf Erika Manns gegen die
Todessehnsucht ihres Bruders Klaus, den sie
schließlich 1949 nach seinem Selbstmord ver¬
lor. Einen wesentlichen Teil des Bandes nimmt
die Korrespondenz zwischen Vater und Tochter
ein. Im Exil ringt Erika Mann mit ihrem Vater,
um ihn zu einem klareren Protest gegen das
Dritte Reich zu bewegen, das ihm 1936 die
deutsche Staatsbürgerschaft aberkennt. Als
Thomas Mann die Partei des Schriftstellers Ri¬
chard A. Bermann ergreift, der von Steven
Schwarzschild aus kaum nachvollziehbaren
Gründen im „Tagebuch“ angegriffen wurde,
schreibt sie ihm: ,,Dein erster officieller ‘Pro¬
test’ seit Beginn des dritten Reiches richtet sich
gegen Schwarzschild und das “Tagebuch’...“,
und sie wirft ihm vor, daß er damit ‚der gesam¬
ten Emigration und ihren Bemühungen“ in den
Rücken falle. Thomas Mann rechtfertigt sich
mit folgendem illusionären Argument: „Es
nützt wenig, die Welt gegen den Greuel aufzu¬
rufen, solange die Deutschen selbst nicht inner¬
lich und gründlich mit ihm fertig sind — und
wenn nicht alles täuscht, sind sie nicht mehr
weit davon.“
Erschreckend ist allerdings der an einigen
Äußerungen deutlich werdende Antisemitis¬
mus Erika Manns, die mit ihrem Kabarett ‚‚Die
Pfeffermühle“ gleichzeitig so tapfer gegen den
Nationalsozialismus kämpfte und 1938 im
Querido Verlag ein Buch über die Erziehung im
Dritten Reich veröffentlichte. So nannte sie
Else Lasker-Schüler eine Ghettojüdin, sprach
selbst von ihrem Antisemitismus und schrieb
1939, bzw. 1944: ,,... heut sprech ich bei den
Judensäuen und sie wollen auch noch, daß ich
ihrem verfluchten Zionismus zum Munde rede.
Will ihn aber nur als highly humanitarian prei¬
sen ... Das ungeheuerliche Pack gerät außer sich
über und gegen jeden, der den geringsten Zwei¬
fel daran aufkommen läßt, daß die Araber eine
bösartige Erfindung der Engländer seien und
sie, die Juden, die master race ...“
E.A.
Klaus Pringsheim Jr, Victor Boesen: Wer
zum Teufel sind Sie? Bonn: Weidle Verlag
1995. 286 S.
Erika Mann: Mein Vater, der Zauberer. Rein¬
bek: Rowohlt Verlag 1996. 558 S.
Artur Landsbergers ‚Berlin
ohne Juden"
Artur Landsberger (1876 — 1933) war Rechts¬
anwalt und ein zu seiner Zeit überaus erfolgrei¬
cher Schriftsteller, der mehr als 30 Bücher
schrieb. 1925 erschien, im selben Jahr wie Hit¬
lers „Mein Kampf“, Landsbergers ‚Berlin
ohne Juden“. In seiner Vorbemerkung schrieb
der Autor:
Diesem Buche muß ich— gegen meine Gewohn¬
heit — ein paar Zeilen vorausschicken. Irgend¬
wer gab mir Bettauers Buch ,,Die Stadt ohne
Juden“ zu lesen. Eine Reihe harmloser Feuille¬
tons, zusammenhanglos aneinandergereiht und
doch fiir mich Stimulans genug, um der Frage
nachzugehen: a) Wie wäre es möglich,
Deutschland zu entjuden? b) Wie sähe es in
Deutschland ohne Juden aus? „Ein gewagtes
Thema“, sagte mein Münchener Verleger, der
für das Buch natürlich nicht in Frage kam. ,, Sie
werden es sich mit Ihren Lesern verderben.“ —
Und andere wieder sagten: ‚Man wird sie mit
Bettauer über einen Kamm scheren. Das kann
Ihnen schaden. “ Ich kenne Bettauer nicht. Ich
habe außer dem angeführten Buche nie eine
Zeile von ihm gelesen. Man hat ihn umgebracht,
und es gibt Kreise, die seinen Mörder als Hel¬
den preisen. Andere versichern, er sei ein Idea¬
list gewesen, von reinsten Absichten geleitet. Es
ist nicht meine Sache, zu prüfen, wer recht hat.
Womit sich die Frage erübrigt, ob Artur Lands¬
berger Bettauers Roman gekannt hat. Allzu evi¬
dent sind die Parallelen. Als wollte Landsberger
den Kritikern zuvorkommen, die seinen Roman
an jenem Bettauers messen würden. Denn eines
ist Bettauers Roman keineswegs, ‚‚eine zusam¬
menhanglose Aneinanderreihung harmloser
Feuilletons“. Bettauer war ein Viel- und
Schnellschreiber, der jedoch die Form des Kol¬
portageromans gekonnt beherrschte. Indes soll
nicht Bettauers „Stadt ohne Juden“ kritisiert
werden, sondern Landsbergers ‚Berlin ohne
Juden“, dennoch wird dies nicht geschehen
können, ohne Vergleiche anzustellen, zumal
zahlreiche Analogien dies nahelegen, denn die
Idee sowie zahlreiche Handlungsstränge hat
Landsberger von Bettauer übernommen. Cover
version nennt man dies heutzutage.
Der Ausgangsplot entwickelt sich in beiden
Fällen (nämlich Romanen) durch die Verab¬
schiedung eines Gesetzes, das alle Juden
zwingt, ihre Heimatstadt zu verlassen. Lands¬
bergers ‚negativer Held“ ist der russische Bol¬
schewik Boris Pinski, dessen Aufgabe es ist,
Deutschland reif für einen bolschewistischen
Umsturz zu machen. Um dieses Ziel zu errei¬
chen, sind ihm alle Mittel recht, und er verbün¬
det sich scheinbar mit den Faschisten. Sein Plan
geht auf, die entscheidende Reichsratssitzung
verfährt in seinem Sinn und wirft die Juden aus
dem Land. Wobei sich der Staat an jüdischem
Kapital bereichert. (Das kennt man doch aus
leidvoller Realität.)
Boris Pinski wird Berater und Sekretär des zu¬
ständigen Ministers und erlangt auf diese Weise
immer größeren Einfluß, während er insgeheim
seine eigenen politischen Absichten verfolgt.
Sobald dann Deutschland in ein wirtschaftli¬
ches Desaster schlittert, würde Moskau hilf¬
reich einspringen, wodurch der Boden für ein
kommunistisches Deutschland geebnet wäre.
So stellt sich die Wirklichkeit in dem Roman
dar.
Landsberger besaß zweifellos die Fähigkeit,
Dialoge und Situationen treffend zu charakteri¬
sieren, jedoch erscheinen seine Schlußfolge¬
rungen und wirtschaftsstrategischen Analysen
aus heutiger Sicht unrealistisch, schwer nach¬
vollziehbar, denn Theorien lassen sich nur be¬
häbig in Literatur umsetzen, zumal sich vieles
verändert hat in den letzten Jahrzehnten. Sollte
tatsächlich ein einzelner Mann imstande sein —
wie in diesem fiktiven Romanmuster —, seine
politischen Absichten derart durchzusetzen?
Der Gedanke verursacht einem Schaudern.
Womöglich ist man selbst naiv oder Landsber¬
ger war gutgläubig, indem er die tatsächlichen
Entwicklungen nicht ernstnahm, nicht glauben
wollte, was sich politisch ankündigte und Rea¬
lität werden sollte.
Dies kann man Landsberger nicht zum Vorwurf
machen. Hingegen den banalen Schluß seines
Romans. Da schlägt die Kolportage durch, jene
Kolportage, die Bettauer leicht und ironisch
handhabt, wogegen ihr Landsberger ohne ein
schelmisches Augenzwinkern erliegt. Analyse
und Literatur haben es schwer, miteinander ihr
Auslangen zu finden.
„Artur Landsbergers Romane sind das soziolo¬
gische Kaleidoskop einer Krisenepoche, in der
es nur die Kontinuität des Umbruchs gab. Diese
Bruchstellen hat er zum Thema seiner Bücher
gemacht, am deutlichsten in Berlin ohne Juden.
Er schrieb jene rasante, grelle und tabulose Art
von Gesellschaftsliteratur, die den Nazis von
Grund auf verhaßt war und die es nach dem
Krieg nicht mehr geben konnte, weil es die
Gesellschaft, deren Spiegel sie war, nicht mehr
gab“ , urteilt Werner Fuld in seinem Nachwort.
Als Artur Landsberger erkannte, daß die politi¬
sche Wirklichkeit seine groteske Schreckensvi¬
sion eingeholt und überrollt hatte, nahm er sich
1933 in Berlin an seinem Schreibtisch das Le¬
ben.
Manfred Chobot
Artur Landsberger: Berlin ohne Juden. Roman.
Hg. und mit einem Nachwort von Werner Fuld.
Bonn: Weidle Verlag 1998. 218 S. OS 277,-/DM
38,-/Sfr 35,90