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Daniel Winkler Utopisches Exil eines rebellischen Patrioten Oskar Maria Graf und Wien Betrachtet man die Liste der Publikationen über Oskar Maria Grafs Brünner und New Yorker Diaspora und die dort entstandenen Texte, so muß man feststellen, daß seine Wiener Zeit, die — grob gesagt — von den letzten Reichstagswahlen 1933 bis zum Februaraufstand 1934 dauerte, bis heute verhältnismäßig unbeachtet geblieben ist. Über sie findet man zwar immer wieder Splitter in Publikationen der Oskar-Maria-Graf-Gesellschaft (z. B. in Bezug auf Grafs Iyrisches Schaffen) oder in den Vor- und Nachworten der einzelnen Werkausgaben, aber selbst in den Graf-Biographien wird dieses Kapitel meist nur eingeschränkt behandelt. Teils wird auf die Exilzirkel und -zeitungen, teils auf die in Wien entworfenen Romane eingegangen. Manche erwähnen die bekannte, schon in den Jahren 1933/34 in der Presse veröffentlichte Lyrik und Prosa, manche die v.a. erst seit den 70er Jahren in Buchform erschienenen Briefe und Aufsätze. Auch aufgrund solcher, oft fragwürdiger, Rezeptionskriterien sollen hier möglichst viele verschiedenartige Grafsche Texte selbst im Zentrum stehen, die in dem einen, enorm produktiven Jahr in Wien entstanden sind. Neben politischen Zustandsbeschreibungen aus der Perspektive des Exils, an das Deutsche Reich gerichteten Protestbriefe, der oft kämpferischen Lyrik und derben oder sarkastischen weiß-blauen Geschichten finden sich, wie in seinen in Wien entstandenen Romanfragmenten, etliche literarische Texte, in denen die Wiener Exilzeit und Grafs eigene ‚Flucht‘ nach Österreich den Hintergrund bilden. Gang ins Exil Graf berichtet über die „Flucht“ nach Wien im zweiten Teil seiner Autobiographie, in Gelächter von Außen, die er im Gegensatz zu seinen in Wien und Brünn verfaßten Aufsätzen und Gedichten, die sich mit der politischen Lage im Deutschen Reich und in Österreich oder seiner Emigration befassen, über 30 Jahre später in New York niederschrieb.' Ich dachte an die Vortragsreise, zu der mich die Sozialistische Bildungszentrale in Wien jeden Herbst einlud. Ich fuhr dabei durch ganz Österreich und las in jeder größeren und kleineren Stadt vor sozialistischen Arbeitern aus meinen Büchern, hatte dadurch viele Leser und aufrichtige Freunde gewonnen und das Land kennengelernt. Ich freute mich jedesmal auf diese Reise. Demzufolge war die neuerliche Einladung der Sozialistischen Bildungszentrale an Graf, nach Wien zu kommen, nicht nur ein Zeichen solidarischen Schutzes. Graf scheint bei den Wiener ArbeiterInnen ein gefragter Vorleser und Redner gewesen zu sein. Dies wird durch die Anzahl der Veranstaltungen, die Graf in dem einen Jahr, in dem er sich in Österreich aufhielt, bestätigt. Nach Eigenaussagen absolvierte er 100 Lesungen, bei denen er v.a. seine Bauerngeschichten, aber auch aus Wir sind Gefangene, dem ersten Teil seiner Autobiographie, vorlas. Im Vorfeld zu den Reichstagswahlen am 10. März 1933 waren Graf und seine Frau Mirjam in München in einer prekären Situation, aufgrund ihrer Kontakte und Symphatien zu kommunistischen GenossInnen befürchteten sie immer wieder ihre Verhaftung. Am 16. Februar erhielt Graf von Joseph Luitpold, dem Leiter der Sozialistischen Bildungszentrale, ein Telegramm mit der Einladung zu einer Lesereise durch Österreich, die kurz zuvor noch ins Ungewisse verschoben worden war. Die vorangehenden Tage erwägten beide immer wieder einen Umzug aus Sicherheitsgründen: Am andern Tag wieder überlegten wir, ob wir nicht dauernd zu den Währmanns oder überhaupt aufs Land ziehen sollten, doch es wurde nie etwas Rechtes daraus. Schließlich wollten wir‘s sogar mit einer etwaigen Übersiedlung nach Berlin versuchen, denn, meinte Mirjam, „in einer Großstadt, wo man uns nicht kennt, ist man vielleicht am sichersten“? Letztendlich fuhr Graf am nächsten Tag nach Wien, wo die vom 18. Februar bis Mitte März anberaumte Tournee beginnen sollte. Seine Frau hingegen blieb trotz seiner Mahnungen noch bis zum 14.3. in München. Sie bestand darauf, noch einmal ihre Stimme gegen Hitler abzugeben. Dies, obwohl Graf, und letztendlich auch seine Frau, die politische Situation realistisch einzuschätzten wußten: Ich versuchte Mirjam klarzumachen, daß die von der jetzigen Hitler-Regierung anberaumte Reichstagswahl am 10. März doch aller Vorraussicht nach unter Terror geschehen würde und -wie sie auch ausfalle- nichts mehr ändere? Eine sehr episodenhaft-gefällige Fassung der „Flucht“ nach Österreich, die eher an seine Bauerngeschichten erinnert, trägt den Titel Gang ins Exil*. Bei dieser Schilderung, deren Handlung er um des Effektes willen in die Faschingstage verlegte (23.2. 1933), erzählt er die Stunden unmittelbar vor der Abfahrt. Ein zünftiges Weißwurstessen wird vom Telegramm der Bildungszentrale unterbrochen, und im Zeitraffer beschreibt er die Tage bis zum Reichstagsbrand. Laut Herausgeber handelt es sich vermutlich um ein Fragment des geplanten dritten Bandes seiner Autobiographie, das er wahrscheinlich erst in den 1960er Jahren verfaßte.° Resumierend schildert Graf seinen einjährigen Aufenthalt in Wien in seinem Aufsatz Erfahrungen mit der österreichischen Sozialdemokratie® (1934). Hier stellt Graf im Unterschied zu Deutschland eine erstaunliche Verbreitung und Vielschichtigkeit der sozialdemokratischen Identität fest, deren Facetten ihn teils erschrecken. Neben einem offen gelebten Antisemitismus, den er noch bedingt zu teilen scheint, betont er die Verfeindung zwischen den Sozialdemokraten in Wien und in den Bundesländern. Er beschreibt die Arbeiterschaft in den Industriegebieten, z. B. Mürzzuschlag, als im Vergleich zu Wien viel radikaler und stellt den Haß der Provinzler auf die Wiener Partei deren sozialdemokratische Sozialisierung gegenüber. Graf kritisiert hier v.a. das ewige Beraten der Wiener Parteileitung im Hinblick darauf, daß diese ArbeiterInnenschaft zum Kampf bereit war. Zu seiner Verwunderung war aber deren Bereitschaft, zu den Kommunisten zu wechseln, trotz des Hasses auf die Parteiführung, nur sehr bedingt gegeben. In Bruck an der Mur fand eben unter Koloman Wallischs Leitung eine überfüllte Einigungsversammlung statt, bei welcher sich Sozialdemokraten und Kommunisten zueinanderfanden. Es war erhebend und hoffnungsverheißend, und wenn man aus Deutschland kam — es war, als lebte man in einer anderen Welt. Und was sagten jene Proleten in der Provinz? „Es 45