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an seine Visitenkarte Oskar Maria Graf, Provinzschriftsteller. Spezialität: ländliche Sachen. Als dritten Faktor stellt Walter heraus, daß diese äußerliche Derbheit und Fröhlichkeit ein schlichter Schutzmechanismus war, der seine eigentliche Verfassung und Zerrissenheit im Exil verdeckte. Der Abgrund Das erste Buch, das Graf in der Emigration schrieb, ist der in Brünn (Brno) vollendete Roman Der Abgrund (1934), in dem sich ein Mensch, Joseph Hochegger junior, von der Masse der nicht handelnden Sozialdemokraten absetzt und politisch tätig wird. Dieser Roman ist ein Dokument über Aufstieg und Fall der Sozialdemokratie am Beispiel einer Familie. Er zeigt das Emporkommen des Sozialdemokraten Joseph Hochegger senior in München, der als junger Buchdrucker in die Partei eintritt und über seine Tätigkeit im Konsumverein und in der von ihm gegründeten gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaft in den Kontakt mit den „Großen“ der Partei kommt. Schließlich machen ihn diese zum Stadtrat. Sein Denken und Handeln bleibt jedoch von Vorbildern wie Friedrich Ebert bestimmt, unter deren Führung die Partei erstmals die Regierung stellt. Mit diesem Erfolg der SPD als Groß- und Regierungspartei geht aber zugleich ihre Entfremdung von den ArbeiterInnen und eine langsame allgemeine gesellschaftliche Radikalisierung einher. Dies erlebt Hochegger in seiner eigenen Familie. Seine Tochter Lotte ist mit einem SA-Mann liiert, der jüngste Sohn Albert wird zum NSDAP-Karrieristen. Mit der Identifikationsfigur des Romans, seinem Sohn Joseph, überwirft er sich, nicht zuletzt auch aufgrund des Drucks, den ihm Tochter und Schwiegersohn in spe machen, nachdem jener begonnen hatte, sich bei den Kommunisten zu engagieren. Er steht für den stets hilfsbereiten, aber biederen Sozialdemokraten, der im Zweifelsfall einen Rückzieher macht und klein beigibt. Sein Sohn entwickelt schon in den 1920er Jahren Bedenken an der sozialdemokratischen Politik des Arrangements und Kompromisses, die zunehmend ihre Grundsätze aus den Augen verliert. Aufgrund seines politischen Wissens und seiner Belesenheit zieht er sich nicht wie sein Vater immer mehr aus der Politik zurück, sondern engagiert sich bei der Roten Hilfe und der KPD. Letztendlich flüchten beide mit ihren Frauen nach Wien. Der Vater ist ein gebrochener und resignierter Mensch, der seinen Selbsttäuschungen erlegen ist. Der Sohn setzt sich noch bis zuletzt für den Generalstreik in der Heimatstadt ein und bleibt in der Emigration politisch tätig, obwohl er politisch nichts bewirken kann. Im Exil rückt die Spaltung der Arbeiterschaft und die Frage, wie man im Exil für die GenossInnen in Deutschland tätig werden kann, immer mehr in den Mittelpunkt. Tröpfchenweise sickern die Nachrichten über die Inhaftierung und Ermordung vieler GenossInnen bis nach Wien. Langsam beginnt sich das EmigrantInnenleben zu organisieren. Ein Anlaufpunkt ist die Sozialdemokratische Arbeiter-Partei, aber auch entstehende Exilzirkel samt ihrer Infrastruktur. Doch trotz der gewährten Hilfe bleiben für die meisten die existentiellen Probleme der Arbeitslosigkeit und völligen Entwurzelung bestehen, so daß sich kaum jemand für die politische Szene in Österreich interessiert. Einzig Joseph Hochegger junior verschwindet immer mehr aus der sich zermürbenden EmigrantInnenszene und widmet sich der Widerstandsarbeit an der Grenze. Schließlich zieht er sich mit seiner Frau Klara ganz ins Karwendel zurück, 48 von wo sie als Bestandteil eines Netzes von WiderstandskämpferInnen zwischen Salzburg und dem Bodensee im Auftrag von KP und SP GenossInnen über die Grenze bringen. Hier lebt noch ein letztes Mal die Idee der Volksfront auf. Nachdem sie sich verraten wissen, flüchten sie sich über Prag nach Wien, wo gerade der Februar-Aufstand ausgebrochen ist. Joseph beteiligt sich am Kampf und wird verletzt. Schließlich flüchten sie ins tschechisch-bayerische Grenzgebiet, um dort die Widerstandsarbeit fortzuführen. Die Neufassung des Romans aus den 1960er Jahren unter dem Titel Die gezählten Jahre verlängert die Handlung bis in die 1950er Jahre: Nach der Genesung Josephs nimmt er von Prag aus den Kontakt mit dem deutschen Widerstand wieder auf. Seine Frau Klara wird nach der Ankunft in Wien verhaftet und im KZ Fuhlsbüttel zu Tode gefoltert, da sie über den Widerstand schweigt. Nach dem Krieg kehrt Joseph nach München zurück und wird als linker Sozialdemokrat in den Parteivorstand gewählt. Dort kämpft er v.a. gegen den sich wieder anbahnenden Militarismus. Im Mittelpunkt des Romans steht der Gegensatz zwischen Vater und Sohn Hochegger. Vereinfacht gesagt, steht der eine für praktizierte Hilfsbereitschaft, Solidarität in Heimat und Exil ohne großen politischen Hintergrund. Der andere verkörpert den politischen Praktiker und Widerstandskämpfer. In diesen beiden Charakteren spiegelt sich womöglich Grafs eigene Gespaltenheit wieder. Einerseits stand er klar auf der Seite des Widerstandskämpfers, auf der anderen Seite hat er sich in den Kämpfen nie engagiert. Vom Formalen und Inhaltlichen her betrachtet stellt der Roman in Grafs Schaffen etwas Neues dar. Denn im Gegensatz zu seiner bisherigen, sehr in der mündlichen Erzähltradition verwurzelten Erzählweise widmet er in diesem Roman der Entwicklung der politischen Parteien enorm viel Raum und verarbeitet dokumentarische Quellen wie Reden oder Zeitungszitate und Flugblätter. Im Zentrum stehen keine Episoden, sondern die politischen Ereignisse von der Jahrhundertwende bis 1934 in Deutschland und Österreich, in die die Charaktere teils verwickelt sind. So könnte man den Abgrund als fiktionalisierten Dokumentationsroman bezeichnen.’ Zudem spielen aber auch biographische Momente Grafs in die Handlung mit hinein, das betrifft v.a. die Ansichten und Lebensstationen des Hochegger junior. Bauer?! bezeichnet in diesem Sinne den Abgrund als Grafs politischstes Buch und folgert: Die politischen Urteile sind hier tendenziöser, direkter auf ein Eingreifen in die Geschichte gerichtet als in all seinen früheren und künftigen Werken. Aber da sich im Roman wie in der Geschichte die niederschmetternde Erfahrung der deutschen Arbeiter am österreichischen Beispiel ein Jahr darauf ganz ähnlich wiederholt, wird dem Optimismus des Lernens und Bessermachens ein empfindlicher Stoß versetzt.” Der Druck des Buches erfolgte erst 1935 in russischer und dann 1936 in deutscher Sprache. Beide Ausgaben wurden erst durch die Vermittlung des KP-Mitglieds Wieland Herzfelde in der Sowjetunion möglich. Denn die Kritik, sowohl von sozialdemokratischer, als auch von kommunistischer Seite, verhinderte einen früheren Druck in Exilverlagen. Die einen monierten das Überlaufen der Identifikationsfigur Joseph Hochegger junior zur KP, die anderen die mangelnd konsequente kommunistische Haltung, z. B. die ergebnislose Widerstandsarbeit im Karwendel. Hans-Albert Walter® geht hierauf ein und gibt zu Bedenken, daß die von Graf geschilderte Niederlage der Ar