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Erich Hackl

„Die Entscheidung kann dir
niemand abnehmen“
Abschied von Otto Dorfer

Vor mir liegt das Buch mit 31 Porträts österreichischer Spanien¬
kämpfer, das die Fotografin Felicitas Kruse unter dem Titel
„Schieß gut, aber freu dich nicht!“ herausgegeben hat. Auf dem
Umschlag, überlebensgroß, sind Ottos Augen zu sehen — wenig
mehr als die helle Iris in den geäderten Augäpfeln, die Lider und
Brauen, wie mit Kohle auf Papier geriffelt, die Nasenwurzel,
von Falten gekerbt, drei oder vier Altersflecken. Ein prüfender,
unbestochener, skeptischer Blick, zugleich wach und müde,
streng und zärtlich, weich und hart. Ein Blick aus Augen, die
sich geöffnet haben, als das Jahrhundert zehn Jahre jung war,
und von denen ich insgeheim — wider alle Vernunft, vertrauens¬
voll wie ein Kind — erwartet habe, sie würden mich und meine
Familie für den Rest unseres Lebens ansehen.

Vor einem Jahr schickte mir Otto Dorfer eine autobiografi¬
sche Notiz, in der er eine mündliche Äußerung korrigierte und
präzisierte. „Man kann“, schrieb er, „mein Alter nach folgenden
Angaben errechnen: Ich wurde in der Hauptstadt eines Landes
geboren, in dessen Hymne es hieß: ‚Ewig bleibt mit Habsburgs
Krone Österreichs Geschick vereint.‘ Diese Ewigkeit ein¬
schließlich vier Jahren Erster Weltkrieg und großer Hungersnot
habe ich überlebt. Es folgten zwanzig Jahre Erste Republik in¬
clusive riesiger Arbeitslosigkeit und vier Jahren Heimwehr¬
Diktatur. Ab 1937 verbrachte ich zwei Jahre in Spanien als In¬
terbrigadist, dann fast zweieinhalb Jahre in französischen La¬
gern, hierauf vier Jahre im Tausendjährigen Reich, das ich auch
überlebte, in Dachau. Seither sind mehr als 50 Jahre verstrichen.
Doch wen interessiert denn mein Alter wirklich und mein stink¬
fades Leben? Ich bin ja kein Popstar, den Fans anhimmeln.“

Otto war, das verraten schon die beiden letzten Sätze, ein be¬
scheidener Mensch. Aber was heißt das schon, bescheiden? In
meinem Synonymenlexikon steht es unter dem Schlagwort Ge¬
nüge, in einer Reihe mit Begriffen wie Zufriedenheit, Befriedi¬
gung, Genugtuung, Wunschlosigkeit, Anspruchslosigkeit. Da
halte ich mich, Ottos Wesen eingedenk, lieber an Grimms Deut¬
sches Wörterbuch, das Bescheidenheit mit Erfahrenheit, Ein¬
sicht und Verstand kombiniert. Denn ich habe Otto Dorfer nicht
als selbstgenügsamen, in die Verhältnisse sich fügenden Men¬
schen kennengelernt; so still, freundlich, ja sanft er anderen
auch begegnet ist— da war immer das Bewußtsein des Mangels
gegenwärtig, Mangel an Frieden, Mangel an Demokratie, Man¬
gel an Vernunft. In der Beurteilung anderer war Otto großzügig
und abwägend, er sprach bedächtig, gleichsam fragend. Ich er¬
innere mich nicht, daß er einen Dritten - ob an- oder abwesend —
je herabgesetzt hätte. Es war, als hätten Haß, Kränkung und
Verachtung seinem Wesen nichts anhaben können. Aber ich
weiß, daß ihm etwas zutiefst verhaßt geblieben ist - der Krieg
und alles, was zu ihm führt und was aus ihm erwächst. Die Her¬
abwürdigung von Menschen, ihre Bedrohung, ihre Auslö¬
schung haben ihn immer empört und bis zuletzt, als ihm der
Atem zu versagen drohte, dazu getrieben, in Leserbriefen, die
selten gedruckt wurden, gegen die alten und die neuen Mörder
und Hetzer aufzutreten. Es schmerzt mich, daß er an einem Tag
- am 12. Mai - starb, da Kriegslärm vieles übertönte.

Vielleicht wundert seine Abneigung manchen, der meint,
daß Otto doch selber, freiwillig, in einen Krieg gezogen sei, da¬
mals im Jahr siebenunddreißig. Aber die Spanienkämpfer wa¬
ren keine Krieger — sie bekämpften den Krieg, und wenn sie
später, nach der Niederlage der Republik, als Besiegte angese¬

hen wurden, denen man bestenfalls idealistische Motive unter¬
stellen könne (und sogar das geschah selten), so vergaß man,
was Otto nie vergessen hat: daß sie dazu beigetragen haben, den
Weltkrieg zwei Jahre lang hinauszuzögern. Hätten die demo¬
kratischen Regierungen die Frist genützt, die ihnen die Verteidi¬
ger der Spanischen Republik erstritten, dann wäre dieses Jahr¬
hundert anders verlaufen.

Otto und Trude, Cristina (meine Frau) und ich hatten man¬
cherlei Gründe, einander Freund und Freundin zu werden. Und
doch war es der halbe Zufall, der uns zusammenführte: ein Film
mit anschließender Diskussion zum Spanischen Bürgerkrieg,
vor fast zwanzig Jahren, hier in Wien. Wir saßen im Kino ne¬
beneinander, kamen ins Gespräch, und es stellte sich heraus, er
war Mitarbeiter des „Wiener Tagebuch“, für das ich regelmäßig
schrieb, und der „Internationalen Presseschau“, für die ich gele¬
gentlich übersetzte. Die „Presseschau‘ wurde von Otto auf einer
alten, gebrechlichen, launenhaften Abziehmaschine vervielfäl¬
tigt, fehlte er einmal, bestrafte sie den ungeduldigen Ersatz¬
mann (meist war es Pepi Meisel) durch Arbeitsverweigerung.
Die Lebenswege aller älteren Mitarbeiter der Zeitschrift ähnel¬
ten einander: Sie hatten, in Wien, sozialistische Jugendvereine
durchlaufen, dann im Februar ‘34 gekämpft, waren aus Enttäu¬
schung über das Versagen der Parteiführung zur Kommunisti¬
schen Partei übergetreten, engagierten sich im Untergrund ge¬
gen die austrofaschistische Diktatur, wurden verhaftet, einge¬
sperrt, nach Wöllersdorf überstellt, gingen als Freiwillige nach
Spanien und landeten, nach entwürdigender Behandlung durch
die französischen Behörden, in deutschen Konzentrationsla¬
gern. Einigen von ihnen, die wegen der nazideutschen Rassen¬
gesetze besonders gefährdet waren, gelang noch von Wien oder
von Frankreich aus die Flucht in ein Exilland. Nach der Befrei¬
ung kehrten sie nach Österreich zurück, wo sie als Funktionäre,
Publizisten oder Angestellte der Partei arbeiteten, manches
wegsteckten, manches mitmachten, ehe sie nach der Nieder¬
schlagung des Prager Frühlings und dem Scheitern des Reform¬
programms ihrem Gewissen folgten, die KPÖ verließen oder
aus ihr ausgeschlossen wurden. Das „Wiener Tagebuch‘ war
sozusagen das Zentralorgan dieser Gruppe kommunistischer
Dissidenten, die von den meisten ehemaligen Genossen geäch¬
tet wurden, vielfach auch in ihrer Existenz bedroht waren. Das
finstere Hinterzimmer in der Belvederegasse, in dem sie allwö¬
chentlich die „Presseschau“ produzierten, einmal im Monat das
„lagebuch“ versandfertig machten, ersetzte ihnen Schulungs¬
heim, Kaderschmiede und Kaffeekränzchen. Hier arbeitete,
nachdem er als Korrektor und Revisor des Globus-Verlags in
Pension gegangen war, auch Otto Dorfer. Otto war pointiert in
seinen Äußerungen, aber kein Freund großer oder lauter Worte.
Er besaß ein feines Gespür für Komik und Ironie, liebte sprach¬
liche Nuancen, durchschaute falsches Pathos, lächelte ver¬
schmitzt oder versonnen, wenn er katalanische Zungenbrecher,
Nestroy,sche Wortspiele oder Lieder aus dem Spanischen Bür¬
gerkrieg zum Besten gab. Wenn ich an Otto denke, sehe ich im¬
mer das Lachen in seinen Augen.

Im Kreis der „Tagebuch“-Mitarbeiter, die großteils aus ei¬
nem bürgerlich-jüdischen Elternhaus kamen, war Otto — wie er
einmal scherzhaft meinte — eine Art „Vorzeigearier“. Auch die
schwere Kindheit und Jugend unterschied seine Biographie von
den ihren; Otto stammte aus einfachen Verhältnissen, sein Vater
starb, als er sechs, die Mutter, als er vierzehn war. Dem Vor¬
mund, deutschnational gesinnt, war nicht daran gelegen, Otto
und dessen älterem Bruder Franz das Elternhaus zu ersetzen,
sein Interesse galt nur der Wohnung der Dorfers. Otto hatte In¬
genieur werden wollen, das ging nun nicht, also absolvierte er
eine Lehre als Schriftsetzer. 1929 wurde er arbeitslos, war fast
zwei Jahre lang auf der Walz, in der Tschechoslowakei, in
Deutschland, in Skandinavien, sein: Versuch, in die Sowjet¬

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