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Aber er ist verwundbarer als sein Bruder An¬
dreas Kain, denn sein Lebenswerk ist keine
Welt im Kopf und daher nicht transportabel,
er liebt das Land, aus dem er vertrieben wird,
so leidenschaftlich, daß er keinen Ort des
Exils in Erwägung ziehen kann.
Inzwischen eskaliert die Gewalt, die Synago¬
gen brennen, und es gibt keinen sicheren Ort
mehr, an dem sie sich rechtmäßig aufhalten
dürfen. Was sie zurücklassen, ist die entfes¬
selte Raubgier und Mordlust des Pöbels in ei¬
ner Stadt, die zur „geliebten Toten“ gewor¬
den ist, um die sie trauern und die sie zu¬
gleich erleichtert verlassen. Diese Ambiva¬
lenz von verzweifelter Liebe und Entsetzen
durchzieht den ganzen Roman in dem Ver¬
such zu verstehen, was sich selbst dem hell¬
sichtigsten Verständnis entzieht.
Einer Figur, dem Kinopächter Felberbaum,
gehört Veza Canettis besondere Zuneigung,
auch wenn sie erst in der zweiten Hälfte des
Romans auftritt und strukturell eher eine Ne¬
benfigur bleibt, aber er erinnert am stärksten
an jene Gestalten ihrer früheren Erzählungen,
deren Verwundbarkeit und Hilflosigkeit mit
soviel liebevoller und ironischer Einfühlung
beschrieben werden, daß man beim Lesen ih¬
ren Zorn und ihren Schmerz um sie empfin¬
det. Felberbaum, „dieser gütige Gemein¬
platz“, wie sie ihn nennt, ist ein Getretener,
der zwar seine Haut nicht retten kann, dafür
aber seine Würde und damit die Würde seiner
Schicksalsgenossen. Wie Werner Kain ist er
ein Liebender, aber einer, der das Leben und
die Menschen liebt, so unverbesserlich liebt,
daß er sich nach jeder Verhaftung, jedem
Schlag, den man ihm versetzt, vom Boden er¬
hebt und sich glücklich preist, am Leben zu
sein. Er wird in Werners Zweizimmerwoh¬
nung mit den Kains zusammengepfercht und
betrachtet es als Auszeichnung, das Dach mit
ihnen teilen zu dürfen. Doch ist er kein Sim¬
pel, sondern er besitzt kluge Zähigkeit und
ein gewisses Maß an Weisheit, stets seine ei¬
gene Situation mit Selbstironie zu betrachten,
zum Beispiel die Lächerlichkeit seiner
Zwangslage am Vorabend des Jom Kippur,
die ihm nichts anderes übrigläßt, als sich mit
drei Schinkensemmeln auf das Fasten vorzu¬
bereiten. In dem sich allmählich steigernden
Bericht über die Vernichtung von Existenzen
und Menschen wird seine unzerstörbare
Menschlichkeit zum Gegenpol der um sich
greifenden Unmenschlichkeit.
Es mag sein, daß der Roman vom literari¬
schen Standpunkt aus gesehen einige Un¬
ebenheiten aufweist, oder daß die größere
Distanz, die Veza Canetti in der Gelben
Straße gelingt, einen höheren literarischen
Anspruch ausdrückt, aber in diesem Roman
ist sie präsenter, mit ihren Gefühlen, ihrer
Hilflosigkeit, ihrer Bitterkeit und ihrem
Schmerz.

Anna Mitgutsch

Veza Canetti: Die Schildkröten. Roman. (Mit
einem Nachwort von Fritz Arnold und einer
Lebenschronik.) München, Wien: Carl Han¬
ser Verlag 1999. 287 S.

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August Meyer über den
Aufbau und die Funktion
der Reichswerke
„Hermann Göring“

Ein (leider) in mehrerer Hinsicht aktuelles
Buch, wie auch folgendes Zitat beweist:
Der Primat der Politik ist in einer industriali¬
sierten Wirtschaft, für die der Konkurrenz¬
kampf den Zwang zu Zusammenschlüssen in
Form von Interessenverbänden, Monopolen,
Kartellen, Syndikaten, Gewerkschaften ver¬
langt, immer in Frage gestellt. Das Verhält¬
nis von Wirtschaft und Politik führt automa¬
tisch zu Machtansprüchen des Stärkeren, wo¬
bei das einzelne Individuum auf der Strecke
bleibt. (S. 34)

Meyer gelingt es, die Vorgeschichte (Deutsch¬
Französischer Krieg, Reichsgründung, Nieder¬
lage im Ersten Weltkrieg) und die Ursachen für
die Annäherung der großen deutschen Indu¬
striellen an die NSDAP - angefangen bei den
politischen Gründen für das Scheitern der Wei¬
marer Republik über die wirtschaftlichen
Ursachen für das sogenannte Autarkiedenken
bis zur Weltwirtschaftskrise — prägnant dar¬
zustellen.

Die Industriellen, zwar einer autoritären
„Führung“ (die die Gewerkschaften nicht zu¬
ließe) durchaus zugetan, mußten aber von ei¬
ner Kanzlerschaft Hitlers erst überzeugt wer¬
den. Schnell einig war man sich in politi¬
schen Fragen: Befreiung des Rheinlandes
und des Saargebietes, Beseitigung des Korri¬
dors und Wiedergewinnung von Polnisch¬
Oberschlesien, Anschluß Deutsch-Öster¬
reichs, Beseitigung der entmilitarisierten Zo¬
ne. Was seine Vorstellungen von einem „re¬
formerten Kapitalismus“ betraf, entschied
sich Hitler, sie am 26. Jänner 1932 selbst vor¬
zutragen. (Ursprünglich hatte das Programm
der NSDAP von 1920 ja die Verstaatlichung
der Industrie und die Brechung der Zins¬
knechtschaft verlangt!) Zuvor ernannte er
Wilhelm Keppler, der 1927 in die Partei ein¬
getreten war, später Leiter einer Tochterge¬
sellschaft der Eastman-Kodak wurde und gu¬
te Kontakte zur Steinschen Bank mit deren
Baron von Schröder hatte, anstelle von Wal¬
ther Funk zu seinem neuen Wirtschaftsbera¬
ter. Wilhelm Keppler gründete nach Hitlers
Rede vor den Industriellen, in der es um die
gemeinsamen Interessen von Partei und
Wirtschaft ging, gemeinsam mit Fritz Krane¬
fuß, einem Angestellten einer hannoverschen
jüdischen Bank und späteren SS-Brigade¬
führer, einen Freundeskreis, dem ca: 20 ein¬
flußreiche Wirtschaftler — so Baron von
Schröder, Hjalmar Schacht, Fritz Thyssen,
Albert Vögler, Otto Steinbrinck, weiters Bin¬
gel von Siemens, Blessing von der Reichs¬
bank, Helfferich von HAPAG und Esso,
Hecker von der Ilseder Hütte, Meyer von der
Dresdner Bank, Bütefisch von den IG Far¬
ben, Schmitt von der Allianz-Versicherung,
Olscher von der Reichskreditbank — ange¬
hörten.

Bezeichnenderweise gehörten bereits mit der
Gründung drei Herren aus dem Hause Flick,
zusätzlich zwei Freunde und Gönner Flicks,
diesem Zirkel an. (S. 32)

Weitere Treffen waren zur Klarstellung der
Wirtschaftspolitik notwendig: Auflösung der
Gewerkschaften, Liquidierung der Weimarer
demokratischen Regierungsform und Ankur¬
belung der Wirtschaft vor allem durch Rü¬
stung.

Kepplers Position festigte sich durch sein or¬
ganisatorisches Talent für diverse Geschäfte
zum Vorteil der Partei. Gegen seinen einsti¬
gen Verbündeten, Hjalmar Schacht, konnte
er später seine wirtschaftspolitischen Vor¬
stellungen, die zur Beherrschung der Wirt¬
schaft durch Funktionsträger der Partei füh¬
ren sollten, durchsetzen. Dieser Funktions¬
träger sollte den Namen Reichswerke „Her¬
mann Göring“ erhalten. „Die Hinzufügung
von Hermann Görings Namen war nötig, um
ihn sozusagen als ‚Schutzpatron‘ für widrige
Zeiten zur Verfügung zu haben.“ (S. 34)
Ende 1932 war es so weit. Eine Eingabe der
genannten Industriellengruppe um Keppler
an Hindenburg, zudem unterzeichnet auch
von einflußreichen Personen wie Paul
Reusch, Fritz Springorum, Graf Keyserlingk,
Graf Kalckreuth, empfahl, Hitler zum
Reichskanzler zu ernennen.

Den Anspruch, mittels Vierjahresplan wirt¬
schaftlich autark zu werden, und die Wider¬
sprüche, die sich aus diesem Anspruch erga¬
ben, erläutert Meyer in der Folge in einem ei¬
genen Kapitel.

Was Hitler jedoch anstrebte, war schon aus
seiner Rede vor dem Industrieklub am
27. Jänner 1932 zu erahnen:

Ich kann die Herrenstellung der weißen Ras¬
se nicht verstehen, wenn ich sie nicht in Zu¬
sammenhang bringe mit der politischen Her¬
renstellung. England hat Indien nicht auf
dem Wege von Recht und Gesetz erworben,
in der Praxis war es hierbei die Ausübung ei¬
nes unerhört brutalen Herrenrechts. ($. 49)
Noch aber brauchten Partei und Industrie, um
sich national zu etablieren, kurzfristige Erfol¬
ge: Hydrieranlagen, Buna-Erzeugung, Be¬
günstigung der Förderung heimischer Roh¬
stoffe, insbesondere der Erze (Salzgitter),
Autobahnen etc. Hitlers Ansehen in der Be¬
völkerung war eng verbunden mit dem Rück¬
gang der Arbeitslosigkeit und steigendem
Konsum. Selbst nach der Umstellung auf die
Rüstungswirtschaft blieb die Berücksichti¬
gung der elementaren Konsumbedürfnisse
der Bevölkerung eine Maxime des Regimes.
Im August 1936 legte Hitler seine zukünfti¬
gen wirtschaftlichen Vorstellungen nieder.
Es ging ihm hauptsächlich darum, für seine
Lebensraumpolitik die stärkste Armee der
Welt zu erhalten. Diese Schrift war sowohl
Grundlage des Vierjahresplanes wie auch der
nun folgenden NS-Wirtschaftspolitik.

Die Verordnung zur Durchführung des Vier¬
jahresplanes, die Göring praktisch zum Dik¬
tator der Wirtschaft bestellte, wurde von Hit¬
ler am 18. Oktober 1936 erlassen.

In Görings Organisationsplänen finden sich