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mühungen nach den Ereignissen der Novemberpogromnacht.
So kam Michael Kuh mit einem Kindertransport der Quäker
am 11. Dezember 1938 nach Großbritannien. Seine Mutter
folgt ihm und seinen Geschwistern im März 1939 alleine, weil
Alexander Solomonica als Staatenloser nicht zu den für eine
Ausreise notwendigen Papieren kommen konnte. Der Ent¬
schluß für ihre Emigration wurde erst gefaßt, als klar war, daß
sie in England größere Möglichkeiten haben würde, etwas für
ihn zu unternehmen, als in Wien, wo sie auf die Initiative ande¬
rer warten mußten. Ihre Absicht war, den PEN-Club in London
auf die gefährdete Existenz von Alexander Solomonica auf¬
merksam zu machen, für den sich bereits Stefan Zweig. und
Franz Theodor Csokor als Fürsprecher angeboten hatten. Doch
ihre Bemühungen blieben ohne Wirkung. Im Oktober 1941
wurde Alexander Solomonica ins Ghetto von Litzmanns¬
stadt/Lodz deportiert und dürfte bald danach entweder in Lodz
oder im KZ Chelmno ermordet worden sein. Knapp vor seiner
Deportation aus Wien übergab er noch einem Schuhmacher ei¬
nen Koffer voller Manuskripte. Michael Stone bemühte sich
nach 1945 diesen Schuhmacher oder dessen Nachfahren aus¬
findig zu machen, glaubte ihn auch gefunden zu haben, doch
wußte dieser nichts von einem Koffer.

Michael Stone (1922-1993)

Sten Nadolny, der Michael Stone nahe gestanden hatte, sah ihn
zum ersten Mal 1974 in einer Berliner Kneipe. Stone spielte
Schach und wurde dabei von einer Frau ziemlich ungeniert an¬
gestarrt. Schlußendlich konnte sie ihre Neugier nicht mehr be¬
zähmen und fragte ihn mit schwärmerischer Stimme: „Ent¬
schuldigung, Sie sind doch bestimmt Halbjude, nicht?“ Stone
antwortete ohne vom Schachbrett aufzusehen leicht amüsiert:
„Von ‚halb‘, meine Dame, kann überhaupt keine Rede sein!“
In seinem Roman „Das Blindeninstitut. Bruchstück einer Ju¬
gend“ schreibt Stone lapidar: „Michaels Judentum hatte 1933
begonnen, am 39. Geburtstag seiner Mutter, dem 30. Januar.“

Geboren wurde Michael Stone am 12. Oktober 1922 in Ber¬
lin als Michael Solomonica-Kuh, er lebte ab 1933 in Wien und
besuchte dort das Döblinger Gymnasium in der Gymnasium¬
straße/Ecke Lannerstraße. Ab 1934 durfte er den Namen sei¬
nes Vaters nicht mehr tragen, da seine Eltern nicht kirchlich
getraut waren: „Im katholischen Wien, wo man es mit der öf¬
fentlichen Moral genauer nimmt (...) wurde nur der Name der
Mutter genehmigt“, schreibt er über 50 Jahre später. Am Döb¬
linger Gymnasium erlebte er Ende April 1938 auch die Ver¬
treibung eines Drittels der Schüler von dieser Schule, als in
Wien Ghettoschulen für jüdische bzw. im Sinne der „Nürnber¬
ger Gesetze“ als jüdisch geltende Schüler geschaffen wurden.”
Diese Schulen bestanden bis zum Ende des Schuljahres
1937/38, danach waren jüdische bzw. als jüdisch geltende
Schüler fast zur Gänze von höherer Bildung ausgeschlossen —
lediglich 500 Schülern war der Schulbesuch ein weiteres Jahr
möglich. Ende 1938 kam Michael Kuh mit einem Kindertrans¬
port der Quäker nach Großbritannien.

Den Zeitraum zwischen dem „Anschluß“ Österreichs an
Deutschland und seiner Emigration umfaßt auch sein autobio¬
graphischer Roman „Das Blindeninstitut. Bruchstück einer Ju¬
gend“, der 1991 in Berlin erschien und ab 1995 auch als Ta¬
schenbuch erhältlich war’, heute aber leider vergriffen ist, doch
im Gegensatz zur Erzählung seines Vaters über Bibliotheken
leicht zugänglich ist. Dieser in Österreich kaum wahrgenomme¬

ne Roman - sehr knappe Rezensionen erschienen in der „Pres¬
se“ und im „Profil“ - hätte sich sicherlich größere Aufmerksam¬
keit verdient. Es gibt in diesem Buch keine Selbstbespiegelung,
kein Versteckspiel hinter einem „Ich“, und auch die historischen
Ereignisse erschlagen den Leser und damit auch die Protagoni¬
sten des Romans nicht. Stone erzählt ohne Bedeutungsschwere
und verzichtet gänzlich auf das Pathos eines künftigen Opfers,
seine Sprache ist ohne Schnörkel und direkt, gibt authentisch
und unprätentiös das wieder, was der 15- bzw. 16-jährige in
Wien erlebt hat. Bestimmte Döblinger Adressen werden von
Stone aus der Erinnerung hervorgeholt: Die Barawitzkagasse,
die Pyrkergasse, die Glanzinggasse, die Döblinger Hauptstraße,
die Hohe Warte, die Krottenbachstraße, die Gymnasiumstraße.
Diese Orte verbinden sich mit Menschen, mit Situationen und
Gefühlen, und sie erhalten dadurch Bedeutung. Daraus entste¬
hen die Bruchstücke einer Jugend, die auch die Bruchstücke ei¬
ner Vertreibung sind.

Der zentrale Ort dieses heranwachsenden Jugendlichen war
nicht das Elternhaus, eine ärmliche Wohnung in einem Dach¬
geschoß in der Pyrkergasse, nicht das Untermietzimmer in der
Barawitzkagasse, nicht die Schule in der Gymnasiumstraße,
sondern das jüdische Blindenheim für Kinder und Jugendliche
auf der Hohen Warte, wo er für kleine Hilfsleistungen das Mit¬
tagessen einnimmt. Dieses Heim ist ihm zugleich Zufluchtsort
und Ort der Bestätigung.

Unvorstellbare Angst erfaßt ihn in der Novemberpogromnacht,
als von der Hohen Warte Rauchsäulen aufsteigen und er befürch¬
tet, daß auch das Blindenheim vom Nazipöbel in Brand gesteckt
worden ist. Doch es ist unversehrt geblieben, Michael muß aber er¬
fahren, wie seine blinden Freunde auf die Nachricht von den Ge¬
walttaten reagieren, denn in ihrer furchtbaren Hilflosigkeit richten
sie ihre Aggressionen gegen den einen, der jener mörderischen Au¬
Benwelt angehört: Michael. Denn er kann sehen, das hat er mit den
Nazis gemeinsam. Seinen Eltern berichtet er dann mit flauem Ge¬
fühl, daß die Nazis ihm die Beulen und Flecken beigebracht hätten.
Das ist Geschichte im mikroskopischen Detail.

Selten ist der Übergang von überheblicher Spöttelei - „Hö¬
ren’S, Beig, bei einer Gleichung mit zwei Unbekannten hilft
Ihnen der Talmud auch nicht weiter“, meint der Mathematik¬
lehrer zu dem der Konfession nach evangelischen Schüler — zu
lebensbedrohender Gewalt so subtil gezeichnet worden wie in
diesem Buch.

Stone beschreibt auch die Situation, die in seiner Klasse
herrschte, nachdem den jüdischen und als jüdisch geltenden
Schülern im Turnsaal ihre Relegation mitgeteilt worden war:

Lehrer, Anm. M.K.) nicht mehr da. Einer, ich sage nicht, wer,
aber er. wurde nach dem Kriege ein erfolgreicher Rechtsanwalt
und praktizierender Katholik, hatte auf die Tafel geschrieben
‚Die Juden sind unser Unglück‘, und ein anderer war ihm an
die Kehle gesprungen, so daß sie mitten in diese Balgerei hin¬
einplatzten. Auf der Tafel stand nur noch ‚Die Juden sind un¬
ser ...‘, weil jemand das Wort Unglück weggewischt hatte.“
Aufgrund dieser Details sind Bücher wie „Das Blindeninsti¬
tut“ so wichtig, denn sie machen „große Geschichte‘ nachvoll¬
ziehbar, verstehbar. Stones Roman ist ein beeindruckendes
Zeitdokument, gleichzeitig ein zeitloses, literarisches Werk,
das in einer Zeit, in dem der Fremdenhaß immer mehr zu¬
nimmt, nur allzu aktuell ist.

1940 wurde Michael Kuh — nachdem in Großbritannien
nach der Niederlage Frankreichs gegen Nazideutschland Hy¬
sterie und Angst vor der sogenannten „Fünften Kolonne“ um

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