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Bücherbasar am Burggraben, Innsbruck. — Passiv kenne ich sie alle. Die goldgeprägten Rücken, Leinen und Fadenbindung, die soliden Werke von H. H. Ewers, M. Jelusich, B. Brehm, K. Springenschmid, E. Colerus und wie sie alle hießen, die auf dem „Marsch ins Nichts‘ nie etwas bemerkt haben und am „Rande des Abgrunds“ sich fühlten, als dieser mit ungeheuren Opfern gerade geschlossen war. Man verlange nicht, daß ich sie hier alle aufzähle. In allen Weltteilen und Geschichtsepochen kannten sie sich aus, schaukelten, Polyhistor und Mineraloge in einem, auf dem Rücken des Kamels durch die Wüste, durchschwammen den Bosporus, beurteilten die Tücken und Vorzüge des rumänischen Geheimdienstes zur Zeit Carol II.’, beugten sich als Arzte tiber die verkriimmten Gestalten sterbender Wehrmachtssoldaten in Stalingrad, erklommen die Anden, erforschten die Kniffe des Opiumhandels in Kanton, beschrieben den Hofstaat Karl V.’. Die Speer, die Guderian, die Thiess, die Standartenfiihrer aus dem Lager Marcus W. Orr, sie haben alle ihre Memoiren geschrieben. Unter tausend Biichern kein einziges von einem Exilierten, kein einziges von einem, der ein KZ nicht führte, sondern überlebte, überhaupt kaum ein Buch einer Frau — Ausnahme: schwärmerische Liebesromane vor exotischer Kulisse (vermutlich auch von Männern unter mir nicht bekannten Pseudonymen verfaßt). Das war der Inhalt des alpenländischen Bücherschrankes, bis hinein in die 1980er Jahre, nun zu Schleuderpreisen aufs Pflaster gespült: Hier das „gehobene Sachbuch“, hier der politische Roman, der uralte Mittelschulbildung neu mit Dialogen aufputzte; das Leben ein Kreuzworträtsel, in das man wieder einträgt, was man schon einmal von „berufener Seite“ gehört hat. All das zirkulierte in riesiger Auflage. Selbst honette Verlage widerstanden nicht der Ritterkreuzträger-Literatur: Mit der einen Hand bedienten sie den alpenländischen Bücherschrank, mit der anderen tasteten sie nach etwas Neuem, schielten sie nach einer Zukunft, die noch nicht eingetreten war (einer sauberen, netten, ganz durch die Technik bestimmten kleinen Zukunft, in der das Erzählen vom Krieg zusammen mit der ganzen Schwerfälligkeit des Erzählens überhaupt endlich aufhören würde). Und so erinnere ich mich, warum ich stets das Taschenbuch vorzog. Die Welt des Taschenbuchs war eine andere, nicht nur weil sie auf Regalen und nicht in Schränken angesiedelt war: Sie verhieß Gediegenheit des Gedankens statt Solidität der Aufmachung (und stets verwunderte mich der Bibliotheksbrauch, Taschenbücher neu aufzubinden und so zu entstellen), Prüfstätte der inneren Einheit des Werks, außerhalb des Halts, den feste Buchdeckel boten. Und der Rückschlag jetzt, der nur mehr das „gutausgestattete Buch“ gelten läßt, wodurch die Bücher als Gegenstände individualisiert und als Werke anonymisiert werden, schafft vor meinen Augen ein Gepräge der Prahlerei, des Ungenauen, Beliebigen. Aber vielleicht war die Entscheidung doch eine andere. Auf die Alternative zwischen „alpenländischem Bücherschrank“ und „Taschenbuch“ kam es am Ende gar nicht an, so sehr sie sich an einem Ort wie Innsbruck aufdrängte, der sich durch eine unfaßbare Selbstgerechtigkeit des maßgeblichen Teils seiner Einwohner bis zum heutigen Tag auszeichnet. Im „Stuwerviertel“, dem Viertel Wiens, in dem ich bald 20 Jahre wohne, selbst arm geblieben in bescheidener Umgebung, tauchen im Altwarenhandel zum Kilopreis auch Buchbestände auf, gebundene Bücher, meist in Pappkarton, kaum je in Leder, die wie die armen Verwandten des „alpenländischen Bücherschranks“ aussehen: verschämte Buchgemeinschaftsarmut, Reader‘s-Digest-Bände, von Vertretern an der Türe aufgedrängt. Und doch. Da ist jemand in seiner kleinen Mietwohnung gestorben, die Wohnung wird, „besenrein und von allen Fährnissen geräumt“, zurückgegeben. Die Erben haben das Bücherbrett durchgesehen. Ob die nun viele Bücher haben oder gar keine, das Resultat ist dasselbe: Die meisten Bücher, offenbar wertlos und ohne aktuellen Bezug, werden zum Altwarentandler gegeben, und dort sehe ich sie mir an. Da der Altwarenhändler kein Antiquar ist, legt er den Buchbestand in Schachteln aus, so wie er ihn bekommen hat, unsortiert, nur von den Händen von mir nicht befugter anderer Büchersuchender durchwühlt. (Denn es hat sich herumgesprochen, daß hier mitunter eine seltene Erstausgabe zu finden ist, Anna Seghers’ Ausflug der toten Mädchen oder ein guterhaltenes Exemplar, in das ein bekannter Autor eine Widmung für ein unbekanntes Mädchen geschrieben hat.) Derart bleiben die Bücher ungefähr auf ihren früheren Eigentümer bezogen, ein in wenigen Tagen oder Wochen verschwindender Nachlaß, kündend von einer politischen Überzeugung, von einem verbissenen Bemühen, sich Kenntnis zu erwerben, hinter die Dinge zu schauen, oft ohne Interesse daran, wie man dies oder jenes tatsächlich bewerkstelligt. Die Paranoia des Durchschauen-Wollens belebt den Buchmarkt und ist eine Folge der ohnmächtig ertragenen Arbeitsteilung. Wüßte man doch mehr davon! Am langen Vorabend des Faschismus, der im Geistigen immer nicht enden will, ist den deutschen und österreichischen Lesern die Lyrik abhanden gekommen: Kaum ein Lyrikband zierte den „alpenländischen Bücherschrank“, und bei mir im Stuwerviertel finde ich überhaupt keinen. In der allgemeinen Paranoia des Durchschauens bedurfte niemand mehr des Gedichts: Es war in der deutschen Klassik und Romantik und im Deutschlesebuch abgeschlossen, und die in der Gier nach restloser Erklärbarkeit Verrannten fanden kein freies, unbefangenes Verhältnis zum Gedicht mehr, es berichtete ihnen keine Merkwürdigkeiten eines rasend durcheilten Erdballs, war kein imperialistischer Experte exotischer Verhältnisse, sprach in Indien, Wien und Jerusalem von denselben Rosen, eine Mischung aus banaler Allgemeinmenschlichkeit und archaischem Schauer, und verlangte vor allem, mit den Vorstellungen und Bildern im eigenen Kopfe irdendwie wieder etwas anzufangen. Kurz gesagt, am Vorabend des Faschismus verschwand das Gedicht aus den Bücherschränken und von den Bücherbrettern. Der Wahrheit zuliebe sei dennoch ein kleiner Bücherfund erwähnt. Walter Zettl heißt der SA-Sturmführer, der 1942 den Gedichtband „Du, Kamerad, und ich“ publizierte. Erschienen in Niederdonau, Ahnengau des Führers, Schriftenreihe für Heimat und Volk, herausgegeben vom Gaupresseamt Niederdonau der NSDAP. Die Identität des Verfassers mit dem langjährigen rührigen Leiter des österreichischen Kulturinstuts in 11