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net. D. h., hier haben sich die Fragestellungen verschoben, hier
wurde sozusagen etwas sichtbar, was früher verdeckt blieb,
und das zeigen verschiedene Autoren mit ganz verschiedenen
Texten, das zeigen die späten Texte von Thomas Bernhard, die
Arbeiten von Elfriede Jelinek oder Elisabeth Reichart, vor al¬
lem auch die Romane und Erzählungen von Robert Schindel,
Doron Rabinovici oder Vladimir Vertlib, und das zeigt vor al¬
lem auch die Rezeption all dieser Bücher. So würde ich sagen
— und das betrifft auch unmittelbar die gegenwärtige politische
Situation in meiner Sicht -, die Verhältnisse sind jetzt klarer,
wenn auch ganz und gar nicht hoffnungsvoller. Damit würde
ich erst einmal aufhören und das Wort weitergeben.

Konstantin Kaiser: Ich habe mir vorgenommen, auf keinen
Fall jetzt mit Gerhard Scheit dieses Buch zu diskutieren, weil
das gleich zu weitgehenden methodischen Diskussionen füh¬
ren würde, z. B. über das Verhältnis von Tauschwert und Ar¬
beitsteilung, über das Verhältnis von Sozialgeschichte und Äs¬
thetik und über das Verhältnis von rassistischem und christli¬
chem Antisemitismus, wo ich doch andere Positionen bezie¬
hen und die Analyse anders vornehmen würde. Ich will mich
jedoch zunächst an das Übereinstimmende halten, daß auch
der Antisemitismus bestimmte Phasen seiner Aktualisierung
durchläuft, und daß er nicht zu jedem Zeitpunkt in derselben
Form auftritt. Es ist z. B. vollkommen müßig, heute in der
Nachkriegsliteratur nach einem Antisemitismus zu suchen, der
nach dem Muster der NS-Literatur, der völkischen und der
Blut- und Boden-Literatur zurechtgemacht ist. Wir haben zwar
in der Nachkriegsperiode noch das Nachleben der NS-Autoren
zu registrieren: sowohl in der Rezeption — bei toten Autoren -,
als auch im Erscheinen einer doch reichen nationalsozialisti¬
schen und völkischen Literatur im Nachkriegsösterreich über
Verlage wie den Stocker Verlag in Graz oder den Heimat Ver¬
lag in Krems (wie er bezeichnenderweise geheißen hat), Bü¬
cher, die doch einiges Aufschlußreiche darüber sagen, welche
Ummontierung des nationalsozialistischen Denkens nach
1945 erfolgt ist, also nicht ganz außerhalb des Studiums zu
stellen wären. Trotzdem sind solche Kontinuitäten in dem
Sinn, daß man stilgeschichtlich Vergleichbares auffinden
kann, nicht das Entscheidende für die Fragestellung über Anti¬
semitismus in der Nachkriegsliteratur.

Meiner Ansicht nach kann man dieser ganzen Frage nur ge¬
recht werden, wenn man von dem Ansatz ausgeht, daß es einen
gleichsam strukturellen Antisemitismus der Nachkriegsepoche
etwa ab 1950 gibt. Was heißt „gleichsam struktureller Antise¬
mitismus‘“? D. h., daß das antisemitische Ressentiment und die
antisemitische Aktivität von der Motivation, von der Bewe¬
gung und von der Emotion einzelner gewissermaßen an das so¬
ziale und politische Ganze delegiert ist. D. h., der Antisemit
konnte in der Nachkriegsordnung seinen Antisemitismus an
den bestehenden Zustand der Gesellschaft delegieren. War¬
um? Weil der bestehende Zustand der Gesellschaft ein postfa¬
schistischer war, d. h. ein Zustand, in dem die Folgen und Er¬
gebnisse der nationalsozialistischen Herrschaft nicht nur nicht
kulturell, sondern auch auf anderen Gebieten nicht in Frage ge¬
stellt worden sind, sondern vielmehr teilweise als Errungen¬
schaften angesehen wurden. Als eine der größten Errungen¬
schaften der nationalsozialistischen Herrschaften für die
Nachkriegsordnung wurde vor allem angesehen — das aber im¬
mer in der Delegation an die Struktur —, daß Hitler es verstan¬
den habe, die alte nietzscheanische Forderung nach der Be¬
schränkung der Anzahl der Juden im österreichischen Volks¬

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körper zu verwirklichen. Es wurde im Grunde genommen be¬
jaht und akzeptiert, daß infolge der nationalsozialistischen
Verbrechen das jüdische Element in der österreichischen Ge¬
sellschaft und Geschichte keine wie immer geartete konstituti¬
ve und gestaltende, fermentierende Rolle mehr spielte. Man
hat sich damit in der Situation gesehen und das bejaht, daß eine
relativ homogene Gesellschaft geschaffen wurde. Diese IIlu¬
sion der Homogenität wurde auch auf die Existenz anderer
Minderheiten ausgedehnt, es ist für diesen strukturellen Anti¬
semitismus der Nachkriegsperiode durchaus charakteristisch,
daß man die Existenz anderer nationaler Minderheiten wie der
slowenischen, kroatischen und ungarischen und der Roma und
Sinti in Österreich praktisch nicht wahrhaben wollte und die¬
sen Gruppen auch keine wie immer gestaltende und das Leben
der Nation oder der Bevölkerung bereichernde Rolle zugeste¬
hen wollte.

In diesem „gleichsam strukturellen Antisemitismus“ ist die
Literatur zu positionieren. Und hier sind zweierlei Aspekte
ganz grob zu unterscheiden: Der erste ist, auch in der Literatur
etabliert sich die Hinnahme der Resultate der nationalsoziali¬
stischen Herrschaft. Und die etabliert sich in Form des Glau¬
bens, daß Emigranten tot sind. Z. B. schreibt sogar eine Kon¬
stanze Fliedl noch Ende der 1980er Jahren über Hermynia Zur
Mühlen, die 1951 in England gestorben ist, daß diese eine Au¬
torin der 1930er Jahre gewesen sei. Zur Mühlen hat aber eini ge
ihrer bedeutendsten Werke gerade in der Zeit von 1938 bis et¬
wa 1946, also im Exil verfaßt und veröffentlicht. Die Emigran¬
ten werden vorzeitig für tot erklärt und einer bereits länger ver¬
gangenen Epoche zugeordnet. Dieser Abwehrmechanismus
wird gleichermaßen von der Literaturwissenschaft als auch
von den in Österreich heimischen Autoren selbst mobilisiert,
hinderte sie daran, den Kontakt und die Solidarität mit einer
immer noch lebendigen Literatur des Exils herzustellen, viel¬
leicht mit Ausnahme einer kurzen Periode bis etwa 1948/49, in
der es etwa mit der Zeitschrift Plan, aber auch anderen Unter¬
nehmungen Versuche gegeben hat, die Exilierten in Österreich
zumindest wieder literarisch, wenn nicht körperlich heimisch
zu machen. Ich bin der Meinung, daß jeder, der - ob mit voller
Absicht oder unwillkürlich — diese Verweigerung des Kon¬
takts mit den Exilierten mitgetragen hat, in Wirklichkeit in be¬
wußtloser Art im Sinne der herrschenden antisemitischen
Struktur fungiert hat.

Der zweite Aspekt ergibt sich aus der Betrachtung der lite¬
rarischen Hervorbringungen der Nachkriegsperiode. Ziehen
wir einmal die Literatur ab, die im allgemeinen als in der Kon¬
tinuität des österreichischen Ständestaates stehend betrachtet
werden kann, nehmen wir die Literatur, die Anfang der 1950er
Jahre zur Wirksamkeit und gerade heute zum höchsten Anse¬
hen gelangt ist, nehmen wir die österreichische Neo-A vantgar¬
de der beginnenden 1950er Jahre, so ist die Beobachtung doch
gestattet, daß diese Neo-Avantgarde wesentlich negativ fixiert
war auf den Restaurationsprozeß, der sich von den 1950er in
die 1960er Jahre auf kulturellem Gebiet vollzog, und in dieser
negativen Fixierung aber auch selbst eingeschränkt und beengt
war. Denn die Neo-Avantgarde hat in keiner Weise das Pro¬
blem des kaum Vorhergegangenen thematisiert. Es gibt in den
Anfängen dieser Neo-A vantgarde, in den frühen Gedichten ih¬
rer Protagonisten, entstanden in jener kurzen Nachkriegsperi¬
ode, in die auch Frischs Roman Moos auf den Steinen gehört,
eine trakl‘sche pantragische Weltuntergangsstimmung — eine
Untergangsstimmung, die eigentlich schon eingeläutet wurde
1944, durch die Umorientierung der nationalsozialistischen