gibt es auch dazu so wenige Untersuchungen? Ich komme des¬
wegen dazu, weil ich mich momentan intensiv mit den Fragen
des Kunstraubes und mit allem, was damit zusammenhängt,
beschäftige, mit der gesamten Literatur der letzten Jahre dar¬
über. Man sollte glauben, daß über die NS-Zeit, über den Na¬
tionalsozialismus in allen Spezialaspekten schon ganze Bibl¬
iotheken geschrieben worden sind. Dem ist aber bei weitem
nicht so. Z. B. die sogenannten Intellektuellen im Nationalso¬
zialismus und ihre Hervorbringungen, die Strukturen, die da¬
mals in einigen Jahren aufgebaut wurden und dann natürlich
nicht fortgesetzt werden konnten, die Institutionen — das ist in
vieler Hinsicht noch immer nicht aufgearbeitet. Auch über die
zwei Punkte, die Gerhard Scheit in seinem Buch erwähnt,
müßte man mehr ausführen. Das Buch ist überhaupt in den
Punkten, die Österreich betreffen, erst ein Anfang. Ich meine
das nicht abwertend, ganz im Gegenteil. Es ist ein Entwurf, wir
müssen darauf aufbauen. Wir müssen uns sehr genau überle¬
gen, was es da noch alles zu untersuchen gibt. Z. B. der eine
Punkt, den Doron Rabinovici erwähnt hat, über die Rezeption
des Jüdischen Witzes — es gab früher jüdische Autoren, die
darauf bezug genommen haben, die darüber Diskussionen ge¬
führt haben. Heute ist das alles schon wieder fast vergessen. Es
gab nicht nur eine Kontroverse um Salcia Landmann, sondern
auch um den Schauspieler Fritz Muliar, um sein Witzbuch.
Gerhard Scheit: Ich möchte eine Anmerkung machen zu dem
Begriff des strukturellen Antisemitismus, wie ihn Konstantin
Kaiser hier entwickelt hat. Da stimme ich im großen und gan¬
zen zu. Nur scheint es mir dann doch zu wenig differenziert zu
sein und sozusagen die Spezifik des Antisemitismus in gewis¬
ser Weise wieder zu verwischen. Einerseits würde ich auch sa¬
gen, dieser blinde Fleck, dieses Ausblenden — und dazu würde
ich auch den Philosemitismus zählen —, das sind sozusagen
Voraussetzungen dafür, und die Zustimmung zu den Ergebnis¬
sen des Nationalsozialismus, d. h. die stillschweigende Hin¬
nahme dieser Ergebnisse, das könnte man durchaus als struk¬
turellen Antisemitismus bezeichnen. Andererseits wäre das
aber als Voraussetzung dafür zu nehmen, daß durch diesen
strukturellen Antisemitismus wiederum die antisemitischen
Feindbilder reaktiviert werden können. Das sind eben ganz
spezifische Feindbilder, die 1945 nicht verschwunden sind,
sondern die tatsächlich reaktiviert werden können, aber — da
stimme ich dir zu - so, daß nicht bruchlos daran angeknüpft
wird, sondern im Gegenteil. Das Verschweigen der Massen¬
vernichtung der Juden einerseits und andererseits das Zur¬
kenntnisnehmen dieser Massenvernichtung kann dem Antise¬
mitismus selbst durchaus neuen Schwung verleihen und zu ei¬
ner besonderen Ausprägung des antisemitischen Feindbildes
beitragen. Das versuche ich etwa bei Rainer Werner Fassbin¬
der zu zeigen, das, was auch als sekundärer Antisemitismus
bezeichnet werden kann. D. h., daß das, was den Juden gesche¬
hen ist, zur Kenntnis genommen wird, kann dem Antisemitis¬
mus neuen Schwung verleihen. Das ist etwa bei den Figuren
von Fassbinder der Fall. Er zeigt da ‚reiche‘ Juden, die auf¬
grund ihres Schicksals, entweder ihrer Eltern oder ihres eige¬
nen Schicksals als Überlebende des Holocaust, aufgrund die¬
ses Schicksals in Deutschland vorgeblich die Möglichkeit ha¬
ben, besonders erfolgreich ihrem Profit nachzujagen. D. h.,
hier hat man wieder diese Identifikation mit dem Kapital, wie¬
derum dieses alte Feindbild, aber es wird jetzt reaktiviert und
aufgeladen mit der Erfahrung der Massenvernichtung der Ju¬
den. Also hier würde ich Einspruch erheben, wenn der Begriff
des strukturellen Antisemitismus diese Entwicklungen nicht
wahrnimmt. Ich sehe da keine bloßen Schlenker sozusagen,
auch nicht wenn Peter Handke Marcel Reich-Ranicki charak¬
terisiert, indem er gewissermaßen die antisemitische Legende
vom ewigen Juden aufwärmt. Auch er verwendet dazu die Er¬
fahrung des Nationalsozialismus, wenn er sagt, die Erfahrung
des Ghettos habe ihn noch mehr in diese Richtung getrieben.
Also auch hier ist es mehr als ein Schlenker. Auch hier wird
das alte antisemitische Feindbild modernisiert und mit der ge¬
schichtlichen Erfahrung gewissermaßen aufgeladen. Auch so
etwas wie das Buch von Brezina mit den Zeichnungen scheint
mir mit dem Begriff des „strukturellen Antisemitismus“ allein
nicht faßbar. Oder mit einem Begriff des strukturellen Antise¬
mitismus, der diesen Antisemitismus auf die Hinnahme der so¬
zusagen durch den Nationalsozialismus geschaffenenen Ver¬
hältnisse reduziert. Es ist eben so, daß die Jüdinnen und Juden
eine Minderheit darstellen, das stimmt schon. Aber was der
Antisemitismus aus dieser Minderheit macht im wahnhaften
Bewußtsein des Antisemiten, das ist eben nicht bloß eine Min¬
derheit. Diese Projektionen finden auch nach 1945 statt, aber
eben in einem anderen Kontext, in modernisierter Form, das
könnte man etwa mit dem Begriff des „sekundären Antisemi¬
tismus“ bezeichnen.
Erna Wipplinger: Ich möchte etwas Persönliches erzählen, das
mir aufgefallen ist, wie ich dieses Buch gelesen habe. Vor Jah¬
ren gab es hier in Wien die Möglichkeit, den Film Jud Süß zu se¬
hen. Vorher hatte ich immer nur in der Sekundärliteratur dar¬
über gelesen. Wie ich den Film dann gesehen habe, erschien er
mir als etwas so Grauenvolles, daß ich mir schwer vorstellen
konnte, daß Menschen damals den Film gesehen haben können,
ohne daß sie irgendwie zu denken begonnen zu haben. Hier in
dem Buch werden verschiedene Fassbinder-Filme analysiert,
u. a. Lili Marleen (1980). Wie ich den Film gesehen habe, muß
ich ehrlich sagen, glaubte ich nicht, daß das ein antisemitischer
Film sei. Der historische Antisemitismus ist für uns, für die Ge¬
neration nach 1945, leicht kenntlich zu machen. Aber die subtile
Art, Vorurteile immer wieder zu schüren, ist manchmal schwer
zu durchschauen. Meine Frage ist dann auch, wie es geschehen
kann, daß Autoren der jüngeren Generation immer wieder auf
solche Klischees zurückgreifen.
Bil Spira: Unter einer Decke.
Zeichnung aus der Arbeiter-Zeitung, 1932.